Der verschollene Landjäger

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Es war zu Anfang des letzten Jahrhunderts. In unserem Lande regierte Napoleons Willkür. An einem Spätherbstabend wanderte ein junger Soldat in französischer Grenadieruniform der Ärgera entlang aufwärts. Er sah bleich und elend aus. Seine Kleider waren verstaubt und seine Schuhe zerfetzt. Mühsam schleppte er sich vorwärts. Endlich fand er eine Felsenhöhle. Mit Aufbietung der letzten Kräfte kletterte er die Anhöhe hinauf und machte sich in dem engen Raume ein Lager zurecht. Einige Tage hauste er hier und nährte sich von den letzten Beeren des Waldes. Aber die karge Nahrung war mit jedem Tag schwieriger aufzutreiben, und die Nächte wurden empfindlich kalt. Da verliess er in einer Nebelnacht die Höhle, um bei erbarmenden Menschen Unterkunft zu suchen. Er wanderte am Hang des Tales empor und kam zu einem Bauernhause. Auf gut Glück vertrauend klopfte er an. Der Bauer zündete mit der Laterne heraus und fragte den späten Gast nach seinem Begehr. Der sprach: „Um Gottes Willen, habt Erbarmen mit mir. Gebt mir etwas zu essen und für die Nacht ein Lager.“ Der Bauer hiess ihn in die Stube treten, und die Hausmutter trug eine dampfende Suppe auf. 0 wie erquickte sie den halbverhungerten Fremden, und eine wohlige Wärme durchrieselte seinen Leib. Nun fing er an zu erzählen: „Man hat mich gewaltsam vom Vaterhause weggenommen und nach Frankreich gebracht. Dort steckte man mich in eine Uniform, und ich wurde Soldat. Fremde Städte und Länder habe ich viele gesehen, und in mancher Schlacht bin ich dabei gewesen. Doch bald erwachte das Heimweh in mir, und mit jedem Tage wurde es mächtiger. Eines Abends bezogen wir auf einem einsamen Bauernhofe Quartier. Da hat mein sehnendes Herz den schwersten Kampf gefochten. Während meine Kameraden drinnen in der Stube spielten und tranken, sass ich vor dem Hause auf einer Bank und schaute träumend in den sinkenden Tag hinaus. Auf der Matte draussen weideten Kühe und Rinder, und ihre Glocken läuteten so schön, so hell - wie daheim. Milder Abendsonnenschein lag wie heimatlicher Friede über diesem Gefilde. Ein goldener Himmel spannte sich darüber. Helle Wölklein wanderten wie selige Geister dahin und verschwanden im Osten hinter dem fernen Bergwalde. Mir war, als wollten sie mich locken: Komm mit uns, komm! Dort drüben liegt deine Heimat  komm doch. Um der Versuchung zu widerstehen, schloss ich die Lider. Aber jetzt erstand vor meinem innern Auge ein anderes Bild. Ich sah mein Vaterhaus von der Abendsonne umstrahlt, meine Eltern und Geschwister auf der Bank davor. Unsere Kühe sah ich auf der Weide, und Geläute war es, das in meine Ohren klang und meine Seele mit den süssesten Sehnsuchtsbildern füllte. Da packte mich das Heimweh mit solcher Macht, dass ich nicht mehr Herr meiner selbst blieb, und ich fasste den Entschluss, in die Heimat zu fliehen. In derselben Nacht, als meine Kameraden vom Weine betäubt in schwerem Schlafe lagen, da stand ich leise auf und eilte von dannen. Ich ging den Weg, den mir die Abendwolken gewiesen hatten. Als der Tag anbrach, da stand ich auf der Höhe jenes fernen Bergwaldes. Dort ruhte ich in einem sichern Versteck und mit Einbruch der Nacht setzte ich meine Reise fort. So bin ich gewandert, Tage und Wochen lang. Jetzt sind meine Füsse wund und mein Körper ist von den Entbehrungen geschwächt. Darum, ihr guten Leute, behaltet mich einige Tage hier bei euch, bis ich wieder hergestellt bin. Dann werde ich weiterwandern; meine Heimat ist nicht mehr fern. Mein Vater entschädigt euch reichlich für alles, was ihr an mir aufwendet. Und erst der himmlische Vater, der wird euch tausendfach lohnen, was ihr dem armen Flüchtling Gutes getan. Aber, verratet ja keinem Menschen meinen Aufenthalt, denn ich bin ein Deserteur, und wenn ich erwischt werde, wartet mir der Tod.“

Sprach die Bäuerin: „Seid ohne Sorge. Ich will euch jetzt in der obern Stube ein Lager rüsten. Dort könnt ihr ruhig und sicher schlafen. So Gott will, werdet ihr bald wieder hergestellt sein und dann endlich den Weg in die Heimat finden.“ Eine halbe Stunde später schlief der müde Krieger sanft und selig in einem weichen, warmen Bett und träumte von Vater und Mutter und Glück in der Heimat.

Mitten in der Nacht öffnete sich leise die Türe des Hauses und der Bauer trat hinaus. Seine Frau folgte ihm. Angstvoll flüsterte sie ihm zu: „Um Gottes Willen, - hab Erbarmen - gehe nicht“. Sie ergriff ihn am Rock und wollte ihn ins Haus zurückziehen. Er aber riss sich los, und eiligen Schrittes verschwand er in Nacht und Nebel.

Am andern Morgen schreckte Poltern und Klopfen den Krieger aus seinem süssen Schlummer. Die Kammertüre wurde aufgerissen und herein stürzten zwei Landjäger. „So! Da haben wir den Deserteur“, schrien sie.

„Steh auf, und folge uns in die Stadt. Dort werden wir dich deinem Herrn wieder ausliefern.“ Was sollte er tun? An Gegenwehr war nicht zu denken. Also machte sich der Soldat marschbereit und verliess mit seinen Wächtern das Haus. Am Tenntor lehnte der Bauer und sah dem Trauerspiele kalt und teilnahmslos zu. Da wandte sich der Krieger um und redete also zu ihm: „Du hast mich verraten. Aber ein Fluch wird deiner ruchlosen Tat folgen. Du sollst einmal ohne Heimat und Heim als Fremdling ...“ Die Landjäger liessen ihn nicht weiterreden und zogen ihn fort. Nur mühsam vermochte er ihnen zu folgen. Er wusste, wo und wie dieser Leidensweg zu Ende ging. „Ade Heimat - Vater - Mutter - ade.“

Der Fluch folgte der bösen Tat. Noch im selben Winter starb dem Bauer seine Frau. Im nächsten Sommer standen ihm die prächtigen Pferde um. Später vernichtete die Seuche seinen Viehstand. Dann musste er Bürgschaften bezahlen, und endlich brach der Geldstag über ihn herein. Haus und Hof wurden versteigert. Voll Groll und Verbitterung verliess der einst wohlhabende Bauer bettelarm Heim und Heimat und wanderte wie ein Flüchtling in die Welt hinaus. Man hat nie mehr von ihm gehört.

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

 

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