Östlich von Heitenried erhebt sich auf einem hohen Felsen die Ruine Grasburg. Sie war einst eine der trutzigsten Burgen unseres Landes. Ein Teil des untern Sensebezirkes und das heutige Amt Schwarzenburg wurden von hier aus durch Vögte oder Zwingherren regiert. Die Herrschaft Grasburg gehörte nacheinander den Zähringern, Kyburgern, Habsburgern, Savoyern und ging endlich 1423 durch Kauf an die Städte Bern und Freiburg über.
Unter den Vögten wird es, wie etwa überall, gute und schlimme gegeben haben. Ein arger Tyrann aber soll Amadeus gewesen sein. Er drückte die Untertanen auf alle erdenklichen Arten, forderte immer höhere Zinsen und Zehnten, liess die säumigen Zahler im Burgverliess einkerkern und strafte jedes kleinste Vergehen mit hohen Geldbussen. Als die Willkür des Vogtes unerträglich geworden, da verschworen sich einige Männer, um ihn zu beseitigen. Das war aber kein leichtes Unternehmen. Fast schien es, als ahne der Zwingherr, was ihm drohe. Er ritt nie mehr allein aus; immer musste ihn eine Schar Bewaffneter begleiten. Die Burg zu überfallen wäre ein eitles Unterfangen gewesen. Mauern und Türme waren wie für die Ewigkeit gebaut, und alle Tore wurden Tag und Nacht scharf bewacht. Es gelang den Verschworenen nicht, ihren Plan auszuführen.
Um diese Zeit diente auf der Burg eine Magd. Die sah jeden Tag neue Ungerechtigkeiten des Vogtes und hörte seine Drohungen und Schmähworte gegen das Volk. Ein bitterer Hass kochte in ihrem Herzen. Willig lieh sie den Verschworenen ihr Ohr und liess sich überreden, den Zwingherrn umzubringen. Eher als sie erwartete, bot sich eine günstige Gelegenheit. An einem heissen Sommernachmittag stiegen dunkle Wolken am Himmel empor. Ein furchtbares Gewitter ging über die Berge. Ein sintflutartiger Regen goss hernieder. Alle Bergbächlein schwollen zu Flüssen an und trugen die Wassermassen der Sense zu. Diese wurde zum wilden Strome. Sie riss Wald und Häuser und Brücken mit sich. Immer weiter rollten und tosten die wirbelnden Wasser, und gegen Abend schlugen sie dröhnend an die Felsen der Grasburg. Das rauschte und wütete und spritzte und schäumte und krachte, als wollten sie den Fels samt der Burg hinwegfegen. Den Vogt ergriff eine Unruhe. Waren es die tobenden Wasser, die ihn aufwühlten oder war es das böse Gewissen, das ihn ob seiner Untaten quälte? Wie ein Geist fuhr er im Schlosse herum, treppauf, treppab, durch Gänge und Gemächer. Wie ein dunkler Schatten folgte ihm geräuschlos die Magd. Als der Vogt sich einmal über die Fensterbrüstung hinauslehnte, um einen Blick auf die wütenden Wasser zu werfen, da huschte sie herbei, packte ihn bei den Stiefeln und stiess ihn hinaus. Mit einem gellenden Schrei sank er in die grausige Tiefe. Der wilde Strom nahm den zerschmetterten Leichnam des Tyrannen und trug ihn fort. Man hat ihn nie mehr gefunden.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch