Das letzte Dorf im Prättigäu in Graubünden ist Klosters. Wer von da nach dem hochgelegenen Thale von Davos gehen will und die alte Strasse einschlägt, dem fällt in nicht grosser Entfernung vom Dorfe ein Felsblock durch seine besondere Gestalt auf. Dies ist der Geisslerstein. Ueber ihn hat ein Bündner-Bauer von Klosters Folgendes mitgetheilt.
Vor langen Zeiten gab es in diesem Thale noch wilde Menschen. Sie waren gutmüthiger Art, dabei aber, obwohl von sehr kleiner Statur, von aussergewöhnlicher Leibesstärke. Ihr ganzer Leib war behaart, um die Lenden trugen sie einen Schurz von Fellen. In der Hand führten sie statt eines Stabes eine mit den Wurzeln ausgerissene junge Tanne. Auch das Dorf Klosters hatte damals die Ehre, einen solchen wilden Menschen in seiner Nachbarschaft zu besitzen. Er hiess überall der Geissler und hatte schon seit vielen Jahren länger als die ältesten Männer damals gedenken konnten, die Ziegen der Gemeinde gegen einen geringen Lohn an Zieger und Käse gehütet. Gern gaben ihm die Leute diesen Lohn, denn die Ziegen kamen alle Abende so gesund heim und gaben so viel Milch, dass man am Ende des Jahres sowohl an Butter als an Käse ganze Wagenladungen fortführen und um schöne Summen verkaufen konnte. Alle Morgen früh trieb man ihm die Dorfziegen bis zum Geisslerstein; da wartete schon das Männlein und trieb sie weiter, man wusste nicht wohin; und Abends zur bestimmten Zeit waren sie alle wieder mit strotzendem Euter beim Steine, dass sie vor Milch kaum gehen konnten. Eins aber war sonderbar. Der Geissler redete wohl mit den Ziegen, sie verstanden ihn und folgten, nur mit den Menschen redete er nie ein einziges Wort. Stumm übernahm er Morgens die Thiere in seine Hut, stumm lieferte er sie Abends wieder ab, stumm kam er jeden Herbst am Zahltage zum Steinblock und nahm Käse und Zieger in Empfang, die man ihm gleichfalls stumm daselbst niederlegen musste.
Dieses ewige Stummthun verdross nun endlich die Leute, und einige vorwitzige Bursche verabredeten, wie sie ihn in ihre Gewalt bringen und versuchen wollten, ob man ihm denn gar keinerlei Aufklärung über sein räthselhaftes Wesen ablocken könnte. Sie versteckten sich eines Abends hinter dem Geisslerstein und sprangen, als er nahe genug war, vereint auf ihn los. Doch der kleine Mann warf mit ein paar kräftigen Stössen den einen dahin, den andern dorthin, bis sie sämmtlich zu Boden lagen, dann eilte er mit unglaublicher Schnelligkeit dem nahm Walde zu. Auch diese Balgerei hatte er stumm abgemacht. Am folgenden Morgen trieben die Klosterser ihre Ziegen wiederum zum Steine, wer aber heute nicht da war, kann man sich denken. Sie warteten und warteten, aber wer nicht kam, das war der Geissler. Da wurde denn beschlossen, dass diejenigen, welche ihm Gewalt angethan hätten, jetzt an seiner Statt die Ziegen hüten sollten. Und so geschah's.
Aber wehe, die Ziegen brachten nicht halb so viel Milch mehr heim. Nach einigen Wochen beschlossen die ältern Bauern, die Gemeinde müsse den Geissler eigens zu versöhnen suchen und ihm etliche Käse und Zieger zur aussergewöhnlichen Zeit auf den Stein legen. Dies half. Er holte die Ziegen wieder wie sonst, sie waren wieder wohlgeweidet und milchreich, nur mussten die Bauern von nun an stets die doppelte Anzahl Käse und Zieger als Lohn dem Geissler erlegen. Da wuchsen aber nach der Hand wieder so ein paar neugierige Bursche auf, die mit dem Geissler gern in nähere Bekanntschaft gekommen wären. Da sie seine Stärke und Gewandtheit schon kannten, so versuchten sie es diesmal auf eine andere Weise. Er hatte nämlich die Gewohnheit, an jedem Abend aus dem kleinen Brünnlein zu trinken, das zunächst dem Steine ist. Diesen Umstand benutzten sie jetzt. Sie sammelten hinter dem Rücken der Dorfgenossen heimlich manche Mass Kirschenwasser und füllten an einem heissen Sommertage unversehens das ganze Brünnlein damit.
Als nun der wilde Mann wie gewöhnlich seinen Durst zu löschen kam, schöpfte er mit der hohlen Hand, aber befremdet durch den Missgeschmack des vermeintlichen Wassers trank er erst nicht fort wie sonst, sondern versuchte, es nur mit einigen Schlücken. Doch musste ihm endlich der Kirschengeist gleichwohl behagen, denn bald bückte er sich über das Brünnlein hin und trank in vollen Zügen. Jetzt kam die Wirkung des berauschenden Wassers, er verlor das Gleichgewicht und sank machtlos nieder. Schnell sprangen die Bursche aus dem Versteck hervor, banden ihn mit Weiden und Stricken und trugen ihn ins Dorf hinein in eine festverschlossene Kammer. Zwei postierten sich als Wache vor die Thüre und so beschlossen sie, bis zum Morgen zu warten und das Verhör erst zu beginnen, wenn der Geissler seinen Nebel ausgeschlafen hätte.
Aber um Mitternacht entstand in der Kammer ein wüthendes Gepolter, man hörte, wie ein ganzer Kreuzstock in Stücke zertrümmert, zum Haus hinaus stürzte, und gleich darauf war der Entsprungene schon ausserhalb des Dorfes zu sehen, wie er mit unerhörter Eile, mehr fliegend als gehend, durch die Wiesen hinlief und verschwand. Natürlich sass er am andern Morgen nun nicht auf seinem Stein, als die Bauern ihre Ziegen wieder austrieben, und kam auch nicht mehr, als sie ihm den alten und dann den verdoppelten Lohn an Zieger und Käse hinlegten. Seitdem müssen die Klosterser einen eigenen Hirten halten und ihm beinahe mehr an Hutgeld bezahlen, als der Erlös aus der Milch ist, die alle ihre Ziegen zusammen geben. So ist von ihrem alten Wohlleben und vom Geissler selbst nichts mehr übrig, als am Dorfe der Geisslerstein.
Mündliche Mittheilung aus der Stadt Chur, durch Stud. Meyer.
Band 1, Quelle: Ernst L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 1 Aarau, 1856, Seite 319
Zwergensagen aus anderen Schweizerkantonen
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch
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