Ein Schneider wollte einmal ein wenig in die Welt hinaus, um sie sich anzuschauen. Aber das arme Schneiderlein meinte, er müsse etwas Vortäuschen, um als vornehmer Herr zu gelten. Dann werde er nicht so hin und her geschupft, wenn er unter die Leute gehe.
Während der Schneider vor einem Fenster stand und sich den Kopf zerbrach, plagten ihn dauernd einige Fliegen und gaben keine Ruhe. Da haute er wütend eine aufs Fenster, als die Fliegen darauf landeten, und er tötete sieben und verwundete sieben. Jetzt schoss es dem Schneider durch den Kopf, wie er sich einen vornehmen Anstrich geben könne. Er schrieb vorne auf das Schild seiner Mütze mit grossen Buchstaben: «Sieben getötet und sieben verwundet auf einmal», doch er erwähnte nicht, dass es sich nur um Fliegen handelte.
Ganz fröhlich machte er sich mit der Mütze auf den Weg. Aber als der Schneider in eine Stadt kam, wurde er zum König gerufen, und der fragte ihn, weshalb er dies auf seine Mütze geschrieben habe, und ob er behaupten dürfe, eine solch grosse Heldentat vollbracht zu haben. Um es nicht auskommen zu lassen, dass es nur Fliegen waren, sagte der Schneider, bei ihm übersehe man die Stärke, denn obwohl er klein sei, finde man keinen Stärkeren als ihn. Der König wollte seine Stärke prüfen und sagte hier in der Nähe, in einem Wald sei ein Tier mit einem Horn mitten auf der Stirne. Dieses Tier durchbohre alles, was ihm entgegentrete. Wenn er im Stand sei, es zu töten und ihm das Horn zu bringen, dann wolle er ihm seine Tochter zur Frau geben. Doch schaffe er dies nicht, so wolle er es ihm schon zeigen, was es bedeute, solche Sachen auf die Mütze zu schreiben, die werde nämlich samt seinem Kopf wegspicken. Zitternd verlangte der Schneider Nägel und einen Hammer. Als er sich auf den Weg machte, dachte er, mit ihm sei es sowieso fertig.
Während er ging und sich den Kopf zerbrach, fiel ein Vogel, halb erfroren, vor seine Füsse. Der Schneider hatte Mitleid mit dem Tierlein, hob es auf und steckte es in seine Tasche. Nachdem er ein Stück im Wald war, begegnete er einem gewaltigen Riesen. Der fragte ihn, wohin er gehe. Als er es ihm sagte, meinte der Riese, er solle gleich wieder umkehren und sich den Kopf abschlagen lassen, dieses Tier könne selbst er nicht besiegen, und er sei doch ein ganz anderer Kerl als er. Da meinte der Schneider, um zu schauen, wer stärker sei, wollten sie einen Stein hoch in die Luft schleudern. Und er nahm seinen Vogel aus der Tasche und warf ihn in die Höhe, so dass er in die Wolken flog. Der Riese schleuderte seinen Stein sehr hoch hinauf, aber der fiel trotzdem langsam zu Boden, doch der Stein des Schneiders nicht. Also hatte der Schneider höher geworfen. «Vielleicht im Holztragen», dachte der Riese, «ist der Schneider schwächer als im Steine schleudern.» Er wollte diesem Knirps nicht unterlegen sein und verlangte vom Schneider, er solle mit ihm Holz tragen. Während der Riese so einen Haufen zusammenbrachte, der den Schneider erdrückt hätte, dachte der sich aus, wie er den Riesen wieder aufs Kreuz legen könne, weil es das erste Mal so gut gegangen war. Sonst wäre er verloren. Wie ein Eichhörnchen kletterte er auf eine Tanne. Der Riese fragte, was er da oben mache; der Schneider antwortete, er schäle die Tanne ab und mache daraus ein Band, um damit seinen Holzhaufen zusammenzubinden. Da sagte ihm der Riese, er solle herunterkommen. Er gebe auf, weil der Schneider nur für das Band eine ganze Tanne brauche.
Aber der Riese gab sich noch nicht zufrieden und verlangte vom Schneider, mit ihm Polenta um die Wette zu essen. Der Riese konnte so viel verschlingen, dass der Schneider davon dreimal geplatzt wäre. Der Schneider aber liess alles durch den Schlitz im Hemd herunter, so dass er immer noch ass, als der Riese aufhören musste.
Jetzt wollten sie zum Ort gehen, wo sich das Tier aufhielt. Der Schneider nahm seine Nägel und seinen Hammer und versteckte sich hinter einer Tanne, als das Tier auf ihn losgehen wollte. Mit aller Kraft bohrte es sich mit dem Horn durch die Tanne, hinter welcher der Schneider sich versteckt hatte. Dann nahm der Schneider seine langen Nägel und nagelte damit das Horn des Tieres an der Tanne fest, so dass es sich nicht mehr bewegen konnte. Voller Neid kam der Riese herbei, der weit weggelaufen war, und lud, nachdem er das wilde Tier getötet hatte, den Schneider zum Übernachten in sein Haus ein. Weil der aber nichts Gutes ahnte, machte der Schneider einen Strohmann und legte den ins Bett; er selber versteckte sich unter dem Bett.
Um Mitternacht kamen einige Riesen mit Prügeln herein und droschen derart auf den Strohmann ein, dass der nachher ganz flach war.
Am frühen Morgen tauchte der Schneider wieder auf, um das Horn dem König zu bringen. Die Riesen waren ganz überrascht und konnten nicht begreifen, dass er nicht tot war. Und sie fragten ihn, ob er in der Nacht nichts gehört oder gespürt habe. Er sagte, etwas habe er schon gespürt, es habe ihn jemand mit einem Strohhalm gekitzelt, doch er habe sich nichts daraus gemacht und habe weitergeschlafen. Jetzt merkte der Riese, dass er ihm nicht den Meister zeigen konnte, und er liess ihn ziehen. Als der Schneider dem König das Horn brachte, war dieser rundum zufrieden und gab ihm seine Tochter zur Frau. Und der Schneider wurde später König.
Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch