Es war einmal ein Mann und eine Frau, die hatten keine Kinder. Da alle ihre Nachbarn schöne und frische Kinder hatten, tat das ihnen weh, und sie waren sehr traurig. Sie hatten lange vergebens um ein Kind gebetet. Jetzt baten sie den Herrgott, ihnen wenigstens ein Kind schenken, und wenn es auch nur so gross wie ein Daumen wäre.
Sogleich bekamen sie ein Kind so gross wie ein Daumen. Eines Tages musste der Vater Holz holen und die Mutter das Essen bringen. Aber der Vater wollte vorher aufbrechen und das Holz holen, wusste aber nicht, wer mit dem Pferd kommen sollte. Als der Däumling das Gespräch zwischen Vater und Mutter hörte, sagte er: «Ich weiss schon, was machen, Ihr, Mutter, setzt mich dem Pferd ins Ohr, dann kann ich es schon führen.» Die Mutter machte dies, und der Däumling konnte durch sein Zureden das Pferd immerzu auf den rechten Weg lenken.
Als sie beim Vater anlangten, kamen zwei Wanderer daher. Als die beiden eine eigenartige Stimme hörten, aber nichts sahen, fragten sie den Vater, wer da die ganze Zeit rede. Der Vater zeigte ihnen den Däumling im Pferdeohr, da staunten sie nicht schlecht und fragten den Vater, ob er ihnen den Kleinen nicht verkaufe. Aber der Vater wollte ihn nicht verkaufen. Der Kleine sagte zu seinem Vater: «Heb' mich auf deine Schulter!» und flüsterte ihm ins Ohr: «Verkauf mich nur! Ich komme wieder zurück.» Jetzt verkaufte der Vater sein Söhnlein für einige hundert Goldtaler, und die Wanderer nahmen den Däumling mit und zogen weiter.
Sie gingen ein grosses Stück und gelangten in einen dunklen Wald, aber jetzt merkten sie, dass sie den Däumling nicht mehr hatten. Sie kehrten um und riefen laut nach ihm. Da antwortete er: «Hier bin ich!» Sie schauten nach und fanden ihn in einem Schneckenhaus. Sie nahmen ihn heraus, gingen weiter und kamen zu einem Schloss. Hier liessen sie den Däumling durch ein Loch hinaufgehen und befahlen ihm, ihnen allerlei Zeug herauszuschmeissen. Er machte das, aber mit einem solchen Krach, dass die Leute des Schlosses wach wurden und die Räuber fliehen mussten.
Der Däumling rannte weg in einen Heustall. Am andern Tag ging die Magd des Schlosses dorthin und holte Heu, um die Kuh zu füttern. Der Däumling war im Heu drin versteckt, und die Magd legte das Heu in die Krippe. Da wurde der arme Kleine von der Kuh mit Haut und Haar verschlungen. Als die Magd das nächste Mal in den Stall ging, um die Kuh zu füttern, hörte sie eine Stimme rufen: «Gib mir kein Heu mehr, ich habe genug!» Die Magd glaubte, die Kuh rede, und sie erschrak fürchterlich. Ganz schnell rannte sie zum Schloss hinauf und erzählte dem Herrn, was sie gehört hatte.
Der Meister ging hin, schlachtete die Kuh und liess den Magen samt dem Kleinen in den Garten werfen. Doch in der folgenden Nacht kam der Fuchs und frass den Magen samt dem Däumling. Der Fuchs wollte nun stehlen gehen, und der Däumling in seinem Magen führte ihn die ganze Zeit dahin und dorthin.
Eines Tages sagte er, der Fuchs solle in dieses und dieses Haus gehen. Der Fuchs folgte ihm und ging in das Haus des Vaters des Däumlings. Dort wollte er alles Mögliche stehlen, doch der Kleine fing an zu lärmen, so laut, dass seine Eltern herbeirannten. Die Mutter rief noch einen andern Mann, und dann wollten sie den Fuchs töten. Aber der Kleine hörte, was sie miteinander sprachen. Da schrie er mit lauter Stimme: «Vater, töte mich nicht!» Der Vater erkannte die Stimme seines Däumlings, er tötete den Fuchs ganz sorgfältig und holte den Däumling aus dem Magen. Vater und Mutter waren jetzt froh und glücklich, ihren Däumling wieder gefunden zu haben.
Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch