Ein Geisshirt legte immer, wenn er mit seinen Tieren in die Berge ging, seine Tasche auf eine Steinplatte. Dann stieg er weiter hinauf, und bei seiner Rückkehr war die Tasche immer leer.
Einmal wollte er wissen, wer ihm sein Essen wegstehle. Da sah er eine Hand hervorkommen, die nahm die Tasche weg. Jetzt stieg er dort hinunter, woher die Hand gekommen war, und er fand eine Höhle mit nur einer Frau drin. Mit ihr nahm er sein Essen. Als sie fertig waren, sagte die Frau, hier sei es üblich, einander nach dem Essen zu lausen, bis man einschlafe. Der Bursche liess sich zuerst von der Frau Läuse ablesen. Er stellte sich sogleich schlafend. Da sah er, dass die Frau einen Gertel unter der Schürze bereithielt, um ihn zu töten. Jetzt tat er so als ob er gerade aufgewacht wäre und sagte: «Jetzt musst auch du dich lausen lassen, bis du eingeschlafen bist!»
Die Frau schlief bald ein und liess den Gertel zu Boden fallen. Dann nahm der Geisshirt den Gertel und schnitt der Frau den Kopf ab. Den Kopf legte er ins Hühnergehege, die Beine unters und den Körper ins Bett. Dann räumte er die Truhen der Alten aus und fand so viele Schätze, dass er davon schön reich wurde. Mit den Schätzen ging er in fremde Länder.
Und als sie merkten, dass die Geissen nicht nach Hause kamen und der Geisshirt auf und davon war, mussten sie einen andern anstellen; den alten sahen sie nie wieder.
Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch