Es war einmal ein armer Bub, der war Geisshirt. Deshalb konnte er fast nie in die Kirche gehen. An einem Sonntag, als die Geissen ruhig weideten, stieg er ins Dorf hinunter, um in die Messe zu gehen. Der Pfarrer war gerade auf der Kanzel und predigte, was zu tun sei, um in den Himmel zu kommen. Der Geisshirt hörte, er Pfarrer sagte, der Weg zum Himmel sei schmal und voller Dornen. Das freute den Geisshirten, und er dachte: «Den Weg dorthin kenn' ich bestimmt!» Denn er war einmal an einer Holzrutsche hochgeklettert, wo er sich übel aufgeschürft hatte.
Am gleichen Tag holte der Bub seine Geissen, und am Abend sagte er den Frauen, er werde die Geissen nicht mehr hüten, denn er gehe in den Himmel, er kenne den Weg. Die Leute lachten darüber und verstanden nicht, was er damit meinte.
Am andern Tag stand der Bub früh auf, denn er wusste schon, dass der Weg die Holzrutsche hinauf weit war. Ganz zerschunden und blutig gelangte er auf eine Ebene, dort meinte er, sei der Himmel. Da sah er bald ein Wegkreuz und fragte es, ob er nicht bald im Himmel sei. Aber der Heiland am Kreuz antwortete nicht. Der Bub ging weiter und dachte: «Der ist noch übler zerschunden als du, der will bestimmt auch in den Himmel gehen.»
Nach einer Weile kam er zu einem Kloster, und er dachte, das sei der Himmel. Er fragte einen Mönch vor dem Kloster, ob da der Himmel sei. Der antwortete, nein, doch er habe auch im Sinn, in den Himmel zu kommen, nun dunkle es aber schon. Und er lud den Buben ein, im Kloster zu übernachten. Aber der Bub sagte, draussen sei noch einer, der habe sicher auch Hunger, er gehe ihn holen.
Der Bub ging zum Heiland am Kreuz und forderte ihn auf, ins Kloster mitzukommen. Der Heiland am Kreuz ging mit und setzte sich am Tisch neben ihn. Und der Bub schob ihm ständig die besten Bissen zu und sagte, er solle essen, damit er morgen den Weg bis zum Himmel aushalte. Die Mönche aber sahen den Heiland nicht und wussten nicht, mit wem der Bub sprach.
Nach dem Nachtessen legte sich der Bub mit seinem Gefährten schlafen, in der Hoffnung, am andern Tag den Himmel zu finden. Und er fand ihn. Denn am andern Tag fanden die Mönche ihn tot. Der Heiland hatte ihn mitgenommen.
Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch