Es war einmal ein armer Mann in einem kleinen Dorf. Der vernahm, dass anderswo eine kleine Erbschaft auf ihn warte. Da machte er sich sogleich auf den Weg, um das Erbe abzuholen, denn er hatte es bitter nötig.
Der arme Mann kam um Mittag in ein Dorf. Da er grossen Hunger hatte, ging er in ein Wirtshaus und bestellte etwas zu essen. Er habe aber im Augenblick kein Geld, er müsse weiter, um eine Erbschaft abzuholen, auf dem Rückweg wolle er bezahlen. Der Wirt meinte, wenn dies so sei, wolle er ihm schon etwas zu essen geben. Und er gab dem armen Mann zwei gekochte Eier und noch eine Kleinigkeit dazu. Nachdem er seinen Hunger gestillt hatte, ging er weiter und war bald an seinem Ziel.
Ohne weiteres erhielt er sein Erbe, und ganz vergnügt ging er zurück zur Wirtschaft, um seine Rechnung zu bezahlen. Der Wirt sagte, er müsse den Betrag zuerst ausrechnen. Nachdem er lange in der hinteren Stube geblieben war, kam der Wirt heraus und sagte, die beiden Eier, die er gegessen habe, hätte er ausbrüten lassen können, daraus hätte es Hennen gegeben, die hätten wieder Eier gelegt, aus denen wiederum Kücken geschlüpft wären und so fort. Und der Wirt berechnete dem armen Mann so viel, dass der ihm am Schluss die ganze Erbschaft überlassen musste.
Ganz traurig machte der Arme sich auf den Heimweg Da begegnete ihm ein junger Mann, der fragte ihn, weshalb er den Kopf hängen lasse, er solle es ihm erzählen. Der Arme antwortete, er sage nichts, er könne ihm ja doch nicht helfen. Nach langem Drängen brachte der junge Mann doch aus dem Armen heraus, was ihn plagte, und er gab ihm den Rat, den Wirt andern Tags vor Gericht zu ziehen. Er werde punkt zwölf Uhr erscheinen und ihm als Advokat beistehen. Der Mann ging zum Wirt und machte, was der andere ihm geraten hatte. Sehr früh am andern Tag erschien der Wirt mit seinen beiden Advokaten im Gerichtshaus, und sie fragten den Armen, ob er keinen Anwalt habe. Da antwortete er: «Doch, um zwölf kommt einer!»
Es ist schon bald zwölf Uhr, doch weit und breit ist niemand da. Nun weiss der Arme nicht, woran er ist, und er glaubt, der andere habe ihn übers Ohr gehauen. Punkt zwölf geht die Tür auf, und der Advokat kommt in den Gerichtssaal: «Ich habe heute Leute, die mir Hirse säen, und bevor ich hierher gekommen bin, habe ich einen Kessel voll Hirse kochen müssen, damit sie gesät werden kann.» Jetzt lachen alle und sagen: «O, das muss eine schöne Hirse geben, wenn du sie vor dem Säen gekocht hast!» Darauf erklärt der Advokat des armen Mannes den Fall und sagt: «Genau so ist es mit den Eiern, die der Wirt dem armen Mann gegeben hat. Aus denen hätte der Wirt auch keine Kücken ausschlüpfen lassen können, da die Eier eben schon gekocht waren.» Jetzt musste der Wirt dem armen Mann alles Geld zurückgeben. Danach fuhr der junge Mann mit dem Wirt und seinem Advokaten mit Feuer und Flammen zur Hölle, wo sie Fett käsen. Der andere Advokat aber gab seinen Beruf auf. Doch der arme Mann machte sich vergnügt mit seinem Geld auf den Heimweg.
Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch