Vor vielen, vielen Jahren betrat ein Ritter ein altes Schloss, so alt wie Brot und Brei. Er wollte nach Geistern Ausschau halten. Nachdem er lange herumgegangen war, kam er in eine grosse Stube. Dort fand er eine Jungfrau, so schön wie die Sonne. Sie sagte zu ihm, sie sei verzaubert, sie müsse jede Nacht als Schlange ins Schloss kommen. Aber wer den Mut habe, sie während dreier Nächte zu küssen, könne sie erlösen. Der Ritter liess sich mutig das Zimmer zeigen, wo er auf sie warten musste. Das Zimmer war schön ausgestattet, und in der Mitte stand ein Tisch mit allen möglichen Speisen drauf, die das Herz begehrt. Und daneben war ein schönes Bett aus roter Seide. Nachdem er gut gegessen und getrunken hatte, ging der Ritter ins Bett und wachte erst gegen zwölf Uhr auf. Neben seinem Bett liegt eine schreckliche Schlange, aber er überwindet den Ekel und gibt der Schlange einen Kuss auf den Mund. In dem Augenblick verwandelt sich der Schlangenkopf in einen wunderschönen Mädchenkopf.
Am nächsten Tag bleibt der Ritter im Schloss, und in der zweiten Nacht um zwölf kriecht eine Schlange mit Mädchenkopf an sein Bett. Er umarmt sie, ohne Ekel zu zeigen, und küsst ihren Körper. Und da verwandelt sich der Schlangenleib in den Körper einer schönen jungen Frau, nur einen Schlangenschwanz hat sie noch.
In der dritten Nacht küsst er ihren Schwanz, und das Mädchen bekommt auch Beine, so wie es sich gehört. Am andern Morgen früh kommt die Jungfrau zum Ritter und sagt, er solle in drei Tagen in der Dorfkirche, am Fuss des Hügels sein, dort wollten sie heiraten.
Darauf ging der Ritter aus dem Schloss und übernachtete in einem kleinen Wirtshaus mitten im Wald. Am andern Tag, während er seinen Zopf flechten wollte, kam das Luder von einer Wirtin und tat so, als ob sie ihm helfen wolle. Aber sie stiess die Nadel des Vergessens in sein Haar, so dass er seine Braut vergass. Als die Jungfrau nach drei Tagen kam und ihren Bräutigam nicht fand, schickte sie ihre Magd, um ihn an sein Versprechen zu erinnern.
Am andern Tag wollte der junge Mann aufbrechen und zu seiner Braut gehen, da stiess die Wirtin wieder die Nadel des Vergessens in sein Haar, so dass er im Wirtshaus blieb. So waren sechs Tage vorbei, als die Magd der jungen Frau kam und sagte, der alte Zauberer, welcher ihre Herrin in eine Schlange verwandelt habe, habe erneut Macht über sie, und er habe sie auf den Glasberg entführt.
Dies aber weckte den Jüngling. Er nahm die beiden goldenen Schuhe, welche die Magd ihm gebracht hatte, und ging die Jungfrau suchen. Diese Schuhe legten mit einem Schritt drei Stunden zurück, und so gelangte er schnell auf den Glasberg.
Alle jungen Frauen auf diesem Berg flehten ihn um Erlösung an, doch er ging herum, bis er seine Braut fand. Mit ihr teilte der die goldenen Schuhe, er zog einen und sie den andern an, und Arm in Arm stiegen sie de Glasberg hinunter.
Im Dorf unten machten sie fröhlich Hochzeit und lebten von nun an im Schloss der Braut zufrieden und glücklich.
Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch