Besorgt blickte der Vater gegen Schwendleberg und Guggershorn. Ein heftiger Wind blies. Das verhiess nichts Gutes. Ein schreckliches Wetter war zu erwarten, vielleicht sogar mit frühem Schnee. Er wandte sich seinem Sohn zu: „Hans, bitte, gehorche heute noch einmal deinem Vater und gehe nicht nach Riffenmatt. Ein andermal habe ich gewiss nichts dagegen.“ Doch sein Sohn lachte ihn aus: „Samstagnacht mag es stürmen, wie es will, da hält mich nichts zu Hause.“ – „He nu, so gehe! Aber merke dir: Wenn du etwas Unbestimmtes merkst, besegne dich. Und falls dich ein Jäger nach der Uhrzeit fragt, so gib ihm zur Antwort: Es ist die Zeit, die dem lieben Gott gerade recht ist!“ Übermütig zog Hans trotz des üblen Wetters los.
Erst um Mitternacht nahm er den Heimweg unter die Füsse. Unterdessen hatte sich das Wetter gehörig verschlechtert. Ein heftiger Wind riss Tannen mitsamt den Wurzeln aus, stiess Hans talwärts und drängte ihn neben den Weg. Über dem Schwendelberg donnerte und krachte es. Könnte das die wilde Jagd sein? Hans spürte etwas Unheimliches näher kommen. Plötzlich raste mit Geschrei, Gefluche und Klagen, begleitet von allerlei Tieren, der Geisterzug an ihm vorbei. Hans fasste sich schnell, besegnete sich, wie vom Vater gelehrt und duckte sich. Wie er schon meinte, der ganze Tross sei vorbei, stand plötzlich ein schwarzes Ross vor ihm und von oben herab schaute ihn ein grüner Jäger an. Sein zündroter Bart leuchtete in der Finsternis. Mit rauer Stimme frage er: „He, lieber Freund, wohin willst du noch? Und kannst du mir sagen, wieviel Uhr es hier ist?“
Hans schluckte. Dann antwortete er: „Es ist die Zeit, wie sie dem lieben Gott gerade recht ist. Und wohin ich will, geht dich nichts an! Aber ich würde dich gerne fragen, was du denn getan hast, dass du des Nachts umherziehen musst. Du wirst doch wohl der wilde Jäger sein?“ Der Geist gab zurück: „Du hast Glück, kennst du den Bannspruch, sonst müsstest du jetzt nämlich mit mir kommen. Doch hüte dich und überlege immer gut, was du tust, damit du dich nicht nach dem Tod doch noch mir anschliessen musst. Ich war ein rauer, wüster Zwingherr, getrieben von Ehrgeiz, Habsucht, Stolz und Tyrannei. Ich habe den Armen das Letzte weggenommen und mit niemandem Mitleid gehabt. Oh, wie viel besser wäre es mit gutem Gewissen arm zu sein, als reich und mit einem Fluch beladen!“ Nach diesen Worten gab er dem Pferd die Sporen und sprengte den andern nach, Hans ungeschoren stehen lassend.
Dieser schlich langsam nach Hause. Ein bisschen hatte ihn die Begegnung doch mitgenommen. Lange konnte er nicht einschlafen. Übernächtigt und zerzaust setzte er sich am nächsten Morgen an den Frühstückstisch. Draussen lag tiefer Schnee, wie es für diese Zeit sehr ungewöhnlich war.
Erst im Stall erzählte er seinem Vater, was er in der Nacht erlebt. „Aber jetzt nähme mich doch wunder, wie der Thürst zu seinem Fluch kam?“ Da begann der Alte zu erzählen.
Vor langer Zeit lebte im Guggisbergerland ein Zwingherr. Voll Stolz und Hochmut war er und ein schrecklicher Tyrann. Seine liebste Tätigkeit war die Jagd. Wenn er mit seinem Tross auszog, zitterten die Bauern; denn er nahm überhaupt keine Rücksicht. Er schonte keine Kultur, zertrampelte die kleinen Tiere und sprengte die Herden nicht selten über die Flühe hinaus. Und fand er keine Wildtiere, erlegte er das Vieh der Bauern.
Nun merkte man einmal einen Bären im Gebiet. Sofort stellte der Herr eine Treibjagd an. Es ging ihm nicht darum, seine Untertanen zu schützen. Er freute sich auf die Bärenjagd. Dazu bot er etliche Bauern als Treiber auf. Der Bär zog sich gegen die Egg hinauf zurück und Ritter, Herren und Treiber folgten ihm. Unter den Treibern war ein junger Mann, dessen Frau gerade ein Kind geboren hatte und am Kindbettfieber erkrankt war. Untertänig und mit betrübter Miene näherte sich dieser Treiber dem Ritter Thürst und bat, ihn doch gnädig zu entlassen, damit er nach Hause gehen könne. Doch trotzig lehnte der Herr ab und wendete sein Ross, um davon zu galoppieren. In dem Moment kam aus einem nahen Gestrüpp der Bär heraus und warf sich auf den Reiter. Der traf das Tier zwar mit seinem Pfeil aber nur schlecht. Mit schrecklichem Gebrüll griff der Bär nun das Pferd an. Dieses brach ein, bevor der Ritter einen zweiten Pfeil schiessen oder sein Schwert ziehen konnte. Jetzt hatte wohl das letzte Stündchen für den Zwingherrn geschlagen. Doch in dem Moment stürzte sich der abgewiesene Treiber mit einem Knüppel auf das wilde Tier. Dieses liess von seinem Opfer ab und wandte sich seinem neuen Gegner zu. Der wehrte sich verzweifelt. Unterdessen konnte sich der Ritter wieder aufrappeln und gab dem Bären mit seinem Schwert den Todesstoss. Alle atmeten auf und hoffnungsvoll kniete sich der Treiber mit seiner Bitte erneut vor den Herrn. Dieser hatte den Dienst, den ihm sein Bauer erwiesen hat schon vergessen und herrschte ihn an: „Du kennst deine Arbeit, und wenn du die nicht tust, kannst du dann schauen, wohin du kommst.“ Diese Antwort trieb dem Treiber die Wut hoch und verzweifelt rief er aus: „Ach, was bist du für ein Tyrann. Es gibt keinen zweiten solchen im ganzen Land!“ Das liess sich Ritter Thürst nicht zweimal sagen. Fast von Sinnen griff er mit seinem Schwert den jungen Mann an. Der versuchte mit seinem Knüppel zu parieren. Doch schon mit dem ersten Streich trennte ihm der Zwingherr die Hand ab. Schrecklich strömte das Blut aus dessen Körper. Mit sterbender Stimme rief er aus: „Dem ewigen Richter bringe ich meine Klage! Und du wirst hier jagen bis zum jüngsten Tag!“ Ein zweiter Schwerthieb brachte dem jungen Mann den Tod.
Seine kranke Frau überlebte die schreckliche Nachricht nicht. Sie starb noch in derselben Nacht.
An der Beerdigung strömte alles Volk zusammen und es war nicht schwer zu erkennen, wie aufgewühlt und rachsüchtig sie waren. Dem Zwingherrn in seiner Burg war nicht mehr wohl. Er beschloss, für eine Weile wegzuziehen und schloss sich des Kaisers Heer an.
Still wurde es im Land und die Leute atmeten auf. Den Ritter sah man hierherum nie mehr. Seine Kinder wurden Hirten. Lange Zeit blieb es so und der Ritter Thürst war schon bald vergessen. Da kam die Kunde, dass er in einer Schlacht gefallen sei.
Und seither siehst du in finsterer Mitternacht – vor allem wenn sich anderes Wetter ankündet – die wilde Jagd vom Schwendelberg her durchs Land stürmen. Das ist der Ritter Thürst, der als gerechte Busse seit seinem Tod durch die Lüfte jagen muss. Das geht nun schon länger als achthundert Jahre und die Jägerschar wird immer grösser. Denn er hat das Recht, wer ihm den Bannspruch nicht nennen kann, unmittelbar mitzunehmen. Unser Geschlecht stammt von ihm ab. Darum beten wir für ihn, damit seine schwere Busse endlich erfüllt sei.
Das ist die Geschichte vom Ritter Thürst. Jeder im Guggisberg kennt sie. Und wer sie nicht gekannt hat, der hat sie nun hier vernommen. Und wenn jemand noch mehr wissen möchte, so weiss ich noch viel von dem, was Grossvater, Vater und Zehners alter Götti von Aeckenmatt erzählt haben.
Quelle: Nach einem Gedicht von Hans Nydegger. Z.T. auch in J. J. Jenzer, Heimathkunde des Amtes Schwarzenburg, Bern, 1869.
Prosafassung nach einem Gedicht von Hans Nydegger, z.T. auch in J.J. Jenzer, Heimathkunde des Amtes Schwarzenburg. Bearbeitet von Anna Maria Läderach.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www. maerchen.ch