Auf der Törbjeralpe, nahe der Grimsel, begegnete ein Hirt, welcher ein verlorenes Rind aufsuchte, in der wildesten Gegend, wo nur Gletscher und kahle Felsen zu sehen, bei finsterem Regenwetter zu seinem grossen Erstaunen einer vornehmen Dame, die gegen den Gletscher wanderte. Er verdoppelte seine Schritte, um derselben seine Dienste anzubieten, falls sie sich verirrt hätte. Bei seiner Annäherung bemerkte er, dass sie keine Kopfbedeckung hatte und barfuss einherging. Aus ihren prächtigen Haaren, welche in reichen Locken auf ihre Schultern herabfielen, tröpfelte der Regen, an ihrem Lilienhalse hing eine Goldkette; ihre schlanken Lenden umgab ein kostbarer Gürtel und ihre Arme waren gleichfalls mit goldenen Reifen geschmückt. An den Fingern ihrer kleinen schneeweissen Hände glänzten Ringe, mit Diamanten besetzt. Ihre blossen Füsse, welche von der Kälte und Nässe gerötet waren, schienen so zart zu sein, dass jedes Steinchen dieselben hätte verwunden müssen. Mit einer Hand hielt sie züchtig die seidene Schürze empor, um sich den Gang durch die rauhe Gegend zu erleichtern, in der andern führte sie einen langen Reisestock. Sie trat mit ihren zarten Füssen auf die harten, kalten und nassen Steine so behutsam, dass man sah, jeder Tritt mache ihr Mühe und verursache ihr Schmerzen. Ihr holdseliges Angesicht trug die Spuren von vielem Weinen; in ihren grossen und sanften Augen schimmerten noch frische Tränen und ihre feinen Lippen öffneten sich zu leisen Seufzern und Gebeten. Voll Verwunderung über diese seltsame Erscheinung und von tiefem Mitleiden gerührt fragte der Hirt sie aus. Da sprach sie: "Soeben verliess ich eine grosse Stadt und einen glänzenden Palast. Noch warm auf dem Totenbette in Mailand liegt mein Leib, um welchen meine Eltern als um ihre einzige Tochter, bitterlich weinen und ihn mit ihren Tränen benetzen. Ich bin von Gott verurteilt worden, in diesem Gletscher abzubüssen weil ich zu Lebzeiten fast auf keine Erde getreten, indem ich immer in der Kutsche fuhr, niemals in eine Traufe kam, nie ohne stattliche Begleitung mich vom Hause entfernte, nie einem kalten Lüftchen mich aussetzte, keine anständige Freude mir versagen wollte, mich vor aller Anstrengung und Mühe fürchtete: darum bin ich zur Strafe für meine Verzärtlichung verurteilt, in dieser rauhen Wildnis barfuss in Regen, Kälte und Ungewitter zu wandeln und in diesem Gletscher abzubüssen." Bei diesen letzten Worten kam plötzlich ein finsterer, dichter Nebel und kalter Regenschauer daher welche ihm die liebliche Gestalt aus den Augen nahmen. Als nach wenigen Augenblicken das Unwetter vorüber war und die Gegend sich wieder etwas aufheiterte, da war keine Spur von der schönen Frau mehr zu erblicken.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.