Wenn in dem kleinen Dörfchen Tracht, das so freundlich mit seinen Fenstern auf die Wogen des Brienzersees schaut, die jungen Burschen alle auf die Alpen gingen um sich Flühblumen zu holen und diese dann frühmorgens am ersten Maitag vor die Türen ihrer Mädchen zu setzen, blieb Wilhelm, der schönste aller Jünglinge, allein zu Hause. Wenn am Abend unter der Linde getanzt wurde, hielt er sich ferne oder schaute teilnahmslos zu. Manch eine schöne Jungfrau, reich an Tugend und zeitlichen Gütern winkte ihm freundlich mit der Hand. Er aber erwiderte solche Grusse kalt, dankte kaum und liess die Schönen stehen. Einstmals zu Pfingsten tönten lustig die Hirtenhörner und Schalmeien. Munter schwang sich alles im Reigen und die Mädchen, festlich geschmückt mit bunten Kränzen, glichen einer Blumenflur im Winde. Auch diesmal tanzte Wilhelm nicht. Sieh! Da trat plötzlich aus dem Gebüsch ein Mädchen mit freundlichen, hellen Augen. Ihr Anzug glich dem Putz der anderen, doch war alles von Seide und mit Silber geziert. Ihre goldgeflochtenen Locken wallten lang herab um Hals und Busen. Jetzt erwachte Wilhelm, stand auf, ging auf die Fremde zu und bat um ihre Hand zum Tanz. Sie gewährte ihm seine Bitte und nun sah man die zwei den ganzen Abend zusammen tanzen. Aber ehe die Glocke elfe schlug, war die schöne Tänzerin verschwunden.
Am nächsten Sonntag jedoch und so oft die Hörner von Neuem zum Tanze riefen, erschien die Schöne wieder. Bald kam sie wie ein Hirtenmädchen mit einem Schnitterhütchen, bald wie ein Fräulein mit Perlen und Edelsteinen geziert. Doch stets kam sie mit Liebe und Huld und stets war Wilhelm ihr Tänzer. Niemand aber wusste ihren Namen. Da drang der Geliebte, als er sie einst am Seeufer begleitete, in sie, sich ihm zu offenbaren. Und sie erzählte ihm, ihr Vater sei ein Fürst des Wassers. Manchmal könne man ihn sehen, wenn er auf den Wellen des Sees sitze. In der Tiefe sei es wunderbar. Alles sei dort glänzend aber ganz still und einsam auf dem Grunde, wo sie wohne, stehen hohe Türme und stattliche Paläste, vor welchen sich herrliche Gärten ausbreiten. Die Wassermenschen in diesen unterirdischen Gebäuden seien mit Schlangenschuppen bedeckt, der Bart und das Haar mit Schilf und Muscheln verwachsen. Öfters, sagte sie, lauschten diese Ungeheuer am Strande. Plötzlich kämen sie ans Land gesprungen, fingen Jünglinge und Männer, welche dem Seegewürm dann zur Speise dienen müssten. Fingen sie aber Mädchen, so nähmen die Wasserfürsten dieselben sich zu Weibern. So sei es auch ihrer Mutter ergangen, die am Strande Blumen gesucht und geraubt worden sei. Ihr Vater sei streng und grausam. Würde er je inne, dass sie sich zu den Menschen gesellte, so wäre der Tod ihre gelindeste Strafe.
Täglich harrte nun der Jüngling am See auf seine Wasserschöne. Immer öfter wusste sie durch List den Wogen zu entschlüpfen, immer enger knüpfte die Liebe die beiden treuen Herzen zusammen.
Einst, als sie im Silberlicht des Mondes zu lange traulich beisammen unter den Haseln geweilt hatten, schlug es am Turme zwölf. Da stürzte das Mädchen nieder und sprach: "Es ist aus mit mir, bald siehst du mein Blut das Wasser röten!" Bleich vor Schreck sprang sie alsobald in den See. Wild wallte die Tiefe auf, doch nach kurzer Weile spielte an dem Jüngling, der sich, an einen Weidenstrunk anklammernd, weit über das Ufer hinausbeugte, eine gerötete Welle vorüber. Da liess er seinen Halt fahren und sank ebenfalls in die Tiefe. Nach dreien Tagen fand man am Ufer seinen Leichnam liegen. Es war am St. Johannestag, als Wilhelm seiner Braut folgte. An diesem Tage nähert man sich ungern dem See, denn dann fordert er jährlich ein Opfer.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.