Vor Zeiten sah der reizende kleine See im oberen Tal der Kander noch anders aus als heute. Sein Wasser unterschied sich nicht von andern kleinen Berggewässern. Es wohnte aber in der Nähe seiner Ufer ein Mägdlein, das sein Herz einem Hirtenknaben zugewandt hatte. Oft gingen die beiden in hellen Mondnächten zu dem von uralten Tannen umstandenen Alpensee, auf welchen der Knabe zum Zeitvertreib einen Kahn gesetzt hatte. Auf den silbernen Fluten verträumten sie dann freundliche Stunden ihres jungen Lebens. Da fiel einst der Knabe, als er hoch in den Flühen im Seiltuche Heu einbringen wollte, über eine Felswand zu Tode. Untröstlich war von der Zeit an das Mägdlein. In mitternächtlicher Stunde schlich es sich oft zum versteckten Seelein, flehte bald in erschütternder Klage den Himmel um Wiedergabe des Geliebten, oder haderte mit ihm über seine Grausamkeit. So verwirrten sich nach und nach des Kindes Sinne. Umsonst war die Mahnung der Eltern, die nächtlichen Besuche aufzugeben. Eine geheimnisvolle Macht zog die Unglückliche immer wieder dorthin. Eines Morgens aber fand man Schiff und Schifferin auf des Wassers Grunde. Von der Stunde an hatte das Seelein eine tiefblaue Farbe angenommen. Die Leute sagten, es seien die Tränen der unglücklichen Liebe und das Wasser sei ebenso blau wie des unglücklichen Mägdleins Augen es ehedem waren.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.