Am Thunersee liegt freundlich das Dorf Merligen, von dessen Bewohnern viele lustigen Geschichten erzählt werden im Bernerlande. Als einst Fremde von Thun aus im Marktschiffe von Merligen gegen die Beatushöhle fuhren und sie die Schiffsleute scherzweise neckten, meinte ein Mädchen: "Ei, das beste von unsern Streichen wisst ihr nicht einmal, das behalten wir für uns." Ein Fremder, der mit andern in Merligen ausgestiegen war, fragte einen Dorfbewohner, der am Stege stand: "Gibt es immer noch so viele Narren hier?" "Eben wieder ein Schiff voll ausgestiegen", antwortete bündig der witzige Bursche.
Einst hatten die Merliger ein Rathaus gebaut und darin die Fenster vergessen. Da zog der Rat aus dem dunklen Gebäude ans Sonnenlicht, jeder Ratsherr mit einem grossen Sack, um denselben mit Licht zu füllen und das Haus zu erleuchten. Einen ganzen Tag trugen sie Licht ins Haus, aber leider vergeblich, denn dunkel blieb es in ihrem Rathause.
Aber die Bemühungen wurden dennoch nicht aufgegeben. Es war nämlich dem Baumeister über Nacht der Gedanke gekommen, man habe ja noch nicht versucht, in der Apotheke zu Thun "Heitere" (Licht) zu holen. Seine Idee fand im Rate allgemeinen Anklang und so wurde denn in der Tat eine Abordnung von Dreien nach Thun abgesandt, um den schmerzlich vermissten Artikel um alles Geld zu erwerben. Der Apotheker, dem die Mannen ihr Anliegen vorbrachten, machte ein sehr ernstes Gesicht. Er habe, sagte er, wohl genug Heitere vorrätig, um das Merliger Rathaus zu erleuchten. Nur sei es mit derselben eine etwas heikle Geschichte. Sie sei sehr flüchtig und man müsse aufpassen, dass sie einem nicht entkomme. Aber die Mannen beruhigten ihn darüber. Sie meinten, ihrer drei werden wohl Sorge für den kostbaren Artikel tragen können. Der Apotheker verschwand daher im Hinterzimmer. Nach einer Weile erschien er wieder mit einer gut verschlossenen und verschnürten Schachtel. "Nur bei Leibe nicht auftun!" rief er nochmals den drei Merligern nach, als diese bereits dankend Abschied genommen und den Weg unter die Füsse genommen hatten. Voller Freude über den wohlgeglückten Handel stolzierten sie nun wieder ihrer Heimat zu. Als einer von ihnen aber unterwegs einmal den kostbaren Behälter zufällig ans Ohr hielt, hörte er drinnen ein
eigentümliches Gesumme. Darüber unterhielten sie sich nun, bis sie gegen den Stampbach in der Nähe ihres Ortes kamen. Hier konnten sie ihre Neugierde aber nicht länger bezähmen, wussten sie doch im voraus, dass sie daheim mit hunderten von Fragen über Natur und Aussehen der "Heitere" in ihrem Trucklein bestürmt werden würden. So wurde denn endlich Halt gemacht und beschlossen, einmal doch nur auf ein winziges Augenblickchen den Deckel ein ganz klein wenig zu lüften. Der Deckel wurde nun ein bisschen emporgehoben. Da flog mit wildem Gebrumme eine grosse Hummel heraus, dass der Träger seine Schachtel im ersten Schreck fallen liess. Alle drei aber riefen wie aus einem Munde indem sie mit erhobenen Armen und Händen gegen Merligen wiesen: "Gegen Merligen, ins Rathaus!"
Eine ältere Chronik weiss noch von folgenden Streichen zu berichten: Da der Nebel immer an den Ralligstöcken hängen blieb und sich nicht auf die Merliger Reben herunterlassen wollte, seien die Leute mit Säcken hinaufgezogen, hätten diese mit Nebel gefüllt, fest zugebunden und drunten in den Reben wieder geöffnet, damit der Wein besser würde. Anstatt das Salz immer von Thun her in den Fässern zu holen, dachten sie, es sei besser, Salz zu säen, dann könne man es zu Hause haben und viel unnütze Gänge und Geld ersparen. So wurde denn in einem grossen Acker ausserhalb des Dorfes Salz gesät. Nach einiger Zeit kam einer am Salzacker vorbei und sah dort Nesseln üppig aufgeschossen. Schnell zupfte er von dem vermeintlichen Salzkraut ab und da es ihn tüchtig brannte, lief er voller Freude hinein in das Dorf und rief: Der Salzacker komme grausam schön und das Kraut sei so räss, dass es einem jetzt schon in die Finger steche. Zum Beweise zeigt er den Leuten die Blasen an seinen Händen.
Als das Salz gesät werden sollte, gab man sich mit der Zurichtung des Ackers ganz besonders Mühe. Schön und glatt war derselbe verebnet worden, so schön selbst, dass es den guten Mann, dem das wichtige Amt des Salzsäens anvertraut worden war, leid tat, auch nur eine Fussstapfe in die glatte Ackerfläche zu treten. Aber wie sollte er es anstellen, um nicht doch irgendwie Spuren darauf zu hinterlassen. Da wusste einer Rat. Zwei kräftige Burschen wurden mit einer Tragbahre herbeigerufen. Auf diese musste sich der Salzsäer setzen. Nun trugen sie ihn freudig über den Acker dahin, während er in aller Seelenruhe nach links und nach rechts seine Saat mit vollen Händen ausstreute. Tatsächlich waren nun seine Fussstapfen auf dem Acker nicht zu sehen.
Ein Reisender zu Pferd, der ganz gegen den Landesbrauch dem rechten Thunerseeufer entlang nach Interlaken reisen wollte, traf zur Dämmerstunde in Merligen ein. Da er vor dem Betreten der alten Oberländer Strasse zur Nachtzeit gewarnt worden war, weil sie sehr steil und stellenweise in Treppenstufen in den Felsen eingehauen ist, wo ein Fehltritt den Sturz über jähe Felsenwände bedeuten würde lenkte er gegen das Wirtshaus von Merligen ein. Der Wirt stand eben vor der Türe. Wie erstaunte er über die völlig ungewohnte Erscheinung Fast wäre er im ersten Schreck davongelaufen. Als er aber eine freundliche, menschliche Stimme von dem Nahenden hörte blieb er doch stehen. "Kann man bei euch ein Nachtquartier haben?" fragte der Reiter den Wirt. Der schüttelte aber ganz entschieden den Kopf. "Aber ihr habt doch ein Wirtshaus hier", fuhr der Fremde fort "und die sind doch zur Herberge da." Der Wirt aber beharrte darauf, dass er ein solches Wesen nicht unterzubringen imstande sei und auch niemals untergebracht habe. "Wenn ihr Euch aber mit einem Platz auf der Wiese begnügen wollt", sagte er endlich, "ja, dann schon." Da sprang der Fremde, dem über dem Zaudern des Mannes endlich die Geduld riss, vom Pferd. Das Staunen des Wirtes aber fand bei diesem Anblicke erst recht keine Grenzen. "Jetzt ist’s was anderes!" rief er. "Wohl freilich könnt ihr übernachten. Ich hab’ halt nicht gewusst", sagte er, nacheinander auf Ross und Reiter deutend, "dass man das auseinander nehmen kann."
Einmal wurde der Beschluss gefasst, eine Mühle zu bauen und den Mühlstein dazu oben im Berg zu hauen. Gesagt, getan. Wie aber den fertigen Stein zum Bach zu befördern, das war eine andere Frage. Da hatte einer einen Einfall, den alle mit Jubel billigten. Es sollte ein verständiger Mann den Kopf ins Loch des Steines stecken, den Stein aufrichten wie ein Wagenrad und so immer neben demselben einhergehen der Stein höre dann schon
auf, vorauszueilen. Zu diesem Rat fand sich auch ein Mann. Bald kam der Stein in Rollen. Er lief so schnell, dass ihn die Leute bald aus den Augen verloren. Er rannte immerzu in hohen und immer höheren Sprüngen bis zum Dorf und durch dasselbe hindurch bis in den See hinaus. "Der Uli", so meinten die langsam und bedächtig hinten drein schritten, "ist heute schneller unten als oben gewesen." Richtig fanden sie ihn auch im Dorfe auf dem Bauche liegend, nur hatte er keinen Kopf mehr! Da meinte einer, man solle doch schnell in Ulis Wohnung laufen und im Schranke nachsehen. Vielleicht stecke der Kopf noch im Sonntagshut.
Auf der steilen Höhe der Rallighölzer fällte ein Merliger einen Baum, zerschlug denselben mit der Axt und trug die Stücke eins nach dem andern in das Dorf hinab. Unterwegs begegnete ihm ein Jäger, der sprach: "Lieber Freund, warum trägst du das Holz herab? Lass es lieber vor dir herabfallen oder zieh’ es an einem Seil herunter, so hast du weniger Müh’ damit." Das leuchtete dem Holzer ein. Flugs ging er hinab ins Dorf, trug das Holz von dort wieder in die Höhe des Berges und liess es nun nach dem Dorf hinunterrollen.
In Merligen stand auch ein Nussbaum am See, der gegen denselben sein Haupt neigte. Da meinten die Bewohner von Merligen, der Nussbaum sei durstig und wollten ihm zum Wasser helfen. Darum schlang der Ammann seine Hände und den Gipfel des Baumes, ein zweiter fasste den Ammann an den Beinen, diesen ein anderer und so fort bis an den See hinunter. Als die Kette fertig war und einer dem andern an den Beinen hing, rief der Ammann von oben: "Haltet recht fest, ich will in die Hände spucken!" Da stürzten alle in den See und mussten jämmerlich ertrinken.
Ein ehrsamer Bürger von Merligen ging einst in den Wald, um Tannenäste, die für einen Gartenzaun hergerichtet und aufgeschichtet worden waren, heimzutragen. Er lud einen Ast um den andern mit der Betrachtung auf die Achsel: "Kann ich einen tragen, so kann ich diesen auch noch nehmen", und fuhr fort, die Äste aufzuladen, bis er gegen hundert zu tragen hatte; aber gerade der hundertste fiel ihm zu schwer. Er lud ihn ab. "Ja, wenn ein Ast zu schwer, dann ist der auch zu schwer." Damit lud er den neunundneunzigsten ab und fuhr so fort, bis er den letzten beiseite gelegt hatte. Jetzt ging er mit leeren Händen nach Hause.
Mit ihren Nachbaren jenseits des Thunersees, den Leuten zu Spiez, standen die Merliger nicht immer auf gutem Fusse. Es wollte nämlich jede der beiden Parteien den besten Wein seeauf und -ab pflanzen, was für sie nicht lediglich eine Ehrensache war, sondern auch in Handel und Wandel Bedeutung hatte. "Wir wollen schon obenaus schwingen", sagten endlich die Merliger.
Und von der Zeit an schlossen sie auf gemeine Verabredung jeweilen im Herbst, wenn sie wussten dass drüben in Spiez der Winzersegen gekeltert wurde, strassauf und -ab im Dorfe an allen Häusern und Hütten die Fensterladen fest zu – alle, bis auf den kleinsten. Wenn sich nun die Händler an ihrem Ufer einstellten und bei dem öden Anblicke nach dem Grunde des Ladenschliessens fragten, erwiderten die Merliger: "Die Spiezer trüelen (keltern) da müssen wir uns hüten, denn ihre harten Beeren fliegen aus ihren Trotten wie Flintenkugeln herüber. Schliessen wir nicht, so schiessen sie uns alle Fensterscheiben ein."
Als zu Ende des vorigen Jahrhunderts die Franzosen ins Land kamen, die Freiheit und Gleichheit brachten und dafür den Staatsschatz der Stadt und Republik Bern in Empfang nahmen, mit dessen Hilfe der General Bonaparte seinen Feldzug nach Ägypten bewerkstelligte, konnte ein Teil des Schatzes ins Oberland geflüchtet werden. Den Merligern fiel etwas davon zur Aufbewahrung zu. Als die Franzosen auch ins Oberland vordrangen, ward es den guten Leuten bange für den Schatz, und um ihn recht sicher zu bergen, beschlosssen sie, ihn in den See zu versenken, da wo er am tiefsten ist. Damit sie jedoch die Stelle der Versenkung jederzeit wieder fänden, malten sie an das Schiff, auf dem sie hinausgefahren waren, einen dicken Strich. Unglücklicherweise blieb der Strich nicht auf dem Wasser kleben, sondern fuhr mit dem Schiff nach Merligen zurück, und nun sind die guten Leute untröstlich, dass sie den Schatz bis auf den heutigen Tag nicht wieder gefunden haben.
Ein Mann von Merligen hatte sich einst eine Flinte, Pulver und Blei angeschafft. Man hatte ihm die Flinte geladen und er war ausgezogen, gerüstet wie Nimrod, um Schrecken und Verderben unter die Tiere des Waldes zu bringen. Als er nun mit mordgierigen Blicken umherspähte gewahrte er auf einem Birnbaume eine lärmende Schar Raben sitzen. Leise schlich der Mann, sich hinter eine Hecke duckend, heran. Als er in Schussweite gelangt war, richtete er das todbringende Gewehr auf die Beute. Lange zielte er. Endlich krachte der Schuss und mit entsetzlichem Geschrei flogen alle Raben davon
Der Schütze aber liess das Gewehr fallen, klatschte vergnügt in die Hände und rief: "Flieget nur, ihr Narren, ihr seid doch alle tot!"
Einst hatten die Merliger Streit mit den Sigriswilern um ein Stück Wald. Keine der beiden Parteien wollte nachgeben. Da ward beschlossen, der Sache durch einen Rätselkampf ein Ende zu machen. Jede Ortschaft konnte der andern ein Rätsel aufgeben. Durchs Los kam Sigriswil zuerst an die Reihe. Als man dort mit dem Köpfezerbrechen fertig geworden war, warf sich der Sohn des Leuenwirtes auf seinen Schimmel, sprengte im vollen Galopp in zehn Stunden nach Merligen hinab und rief den harrenden Merligern schon von weitem entgegen: "Die Sigriswiler wünschen zu wissen, wieviel Uhr es in Merligen geschlagen hat?" Er brauchte, trotzdem die Merliger die im Spotte angezogene Kirchenuhr nicht besitzen, auf Antwort nicht lange zu warten und diese lautete: "Geschlagen hat sie am letzten Samstag nachts 12, seither aber nur gewarnt." Die Sigriswiler aber waren mit der Antwort zufrieden, wussten sie doch nur zu wohl, dass am letzten Samstag wirklich zwölf der ihren von den Merligern geschlagen worden waren. Seither hatten diese nur gewarnt.
Die Merliger aber stellten nun die Gegenfrage: "Heisst eure Wirtschaft zum Leuen oder zum Affen?" Das wusste man droben in grosser Bestürzung nicht gleich zu beantworten. Darum lief alles in den Leuen, dessen Schild so verblichen war, dass man nicht entscheiden konnte, ob darauf ein Leu oder ein Affe gemalt sei. Sie sassen so lange über der schwierigen Frage, bis es ihnen allen vorkam, es könne nur ein Affe auf dem Schilde gemalt sein, mit welchem sie denn auch getrost nach Hause gingen. So hatten die Merliger das Spiel gewonnen.
Einst beschlossen die Leute von Lauenen im Obersimmental ihre schwarz gewordene Kirche mit Rahm zu weissen, wozu jeder Talgenosse einen Kübel voll liefern musste. Diese süsse Tünche zog aber die Bremsen und Fliegen an; sie stellten daher zu ihrer
Vertreibung an allen vier Ecken Wächter und Flinten auf. Als es nun allenthalben zu schwärmen begann, gaben diese alle miteinander Feuer und zwar so, dass jeder den Wächter an der nächsten Ecke traf und alle vier tot auf dem Platze blieben.
Auch den Leuten von Adelboden, die heute den Ruf geniessen, vortreffliche Gastwirte zu sein und welche sich auch in der Landesgeschichte durch geistige Regsamkeit rühmlich hervorgetan haben, wurde im Lande herum gerne ein bisschen am Zeuge geflickt, indem man sie als Schildbürger hinstellte. Namentlich weiss man in Lenk über die Nachbarn jenseits des Berges manches fröhliche Stücklein zu erzählen. So sollen die Adelbodner einmal eine Ziege auf ihr Kirchendach hinaufgezogen haben, damit sie das Gras droben abweide. Wenn es zur Kirche läutete, musste einer den Kirchturm halten, indessen ein anderer im Dorfe herumlief um den Leuten anzusagen, dass es jetzt läute.
Ein Adelbodner, der aus der "Fremde", vom benachbarten Äschi heimkehrte, erzählte, er habe ein Pferd gesehen das habe an einem vierrädrigen Spinnrad gesponnen und sei dazu noch gelaufen. er hatte nämlich zum ersten Mal einen fahrenden Wagen gesehen. Vor dem Schloss Tellenburg bei Frutigen fragte der gleiche, was das für ein grosser Ofen sei, weil er daheim noch nie ein gemauertes Gebäude gesehen hatte. Beim Anblick des Thu- nersees meinte er, hier habe man den Himmel unten. Adelbodner waren es wiederum, die sich von einem Lenker ins Bockshorn jagen liessen. Dieser hatte in Frutigen am Markt zwei Ziegenböcklein gekauft und trieb sie an weissem Strick Adelboden zu. Da das Ausweichen im engen Hohlweg schwierig war, rief er den zum Nachmarkt gehenden, ihm begegnenden Leuten zu: "Gehet ein bisschen beiseits, es sind nicht Böckchen das, es sind arme Seelen!" Und erschrocken kletterten die leichtgläubigen Adelbodner das Strassenbord hinauf und liessen ihm freien Durchpass.
Aber auch die Lenker sind in diesen Stücken nicht einwandfrei geblieben. Ein dortiger Talbewohner stand nämlich im Geruche des Meineids. Da wurde ihm in seiner Abwesenheit ein hungriger Ziegenbock in die Stube gesperrt und zugleich ein Bündel Heu über ihm an die Decke gehängt. Als nun der Mann bei seiner Heimkehr ins Zimmer trat und den nach dem Futter lüsternen Bock aufrecht auf dem Tische stehen sah, vemeinte er, es sei der leibhaftige Schwarze. Daher stürzte er hinaus und schrie. "Helft mir, ich will alles bekennen!"
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.