Elsi war das schönste Mädchen im Dorfe Sigriswil - schön über alle Massen. Wer sie nur ansah, musste sie lieben. Kein Wunder daher, dass, als sie in die Jahre kam, es ihr an Liebhabern nicht fehlte. Die Knaben des ganzen Dorfes waren in sie verliebt und jeder meinte, nur ihm könne es gelingen, das schöne Kind fürs Leben zu gewinnen. Unter ihnen war einer, Hans mit Namen, Elsi in stiller, sinniger Liebe zugetan. Er machte kein Wesen aus seiner Verehrung, aber wo es galt, die Stimme seines Herzens reden zu lassen, da legte er sich keinen Zwang an. Elsi aber war durch die vielen Zeichen der Verehrung, die ihr entgegengebracht wurden, verwöhnt und wählerisch geworden. Sie tat mit jedem ein wenig schön, aber keinem versprach sie das, was er wünschte. Vielleicht dachte sie in ihrem Innern, der Herrgott müsse für sie etwas ganz Besonderes haben wachsen lassen, das sie nur bis zum heutigen Tage nicht kenne – etwas viel Besseres als nur die Sigriswiler Knaben.
Am ersten Maisonntag aber war Tanz. Auf diesen Tag setzte jeder im Stillen seine Hoffnung. Auch Hans erschien mit den anderen auf dem Dorfplatze. Da nahte sich manch einer der stolzen Schönen in der Absicht, um mehr als nur um einen leidigen kurzen Tanz anzuhalten. Hans aber wagte nur in Blicken zu sagen, was sein Inneres bewegte. Als er
aber später am Nachmittage wieder eines Tanzes gewürdigt wurde, vermochte er nicht länger mit seinem Wunsche zurückzuhalten. "Wer wird der Glückliche sein", sagte er plötzlich, "der diese Hand auf immer behalten darf?" "Derjenige", antwortete Elsi kurz, "der noch heute Nacht Flühblumen von der spitzen Fluh herunterholt und sie mir, ehe die Sonne aufgeht, vors Fenster stellt." Die spitze Fluh aber ist jener gefürchtete Felsenzahn, der dräuend und gefährlich über die Alpen von Sigriswil emporsteigt.
Mit einbrechender Dunkelheit war Hans vom Tanzplatze verschwunden. Elsi aber hatte ihre Worte längst vergessen und gab sich bis spät in die Nacht hinein dem Vergnügen hin. In der Morgenfrühe aber führte sie ein Auftrag ihres Vaters über die Bergweiden, welche sich um den Fuss des Sigriswiler Rothorns ausbreiten. Plötzlich entringt sich ein Schrei des Entsetzens ihrer Kehle. Ihr Fuss ist an einem dunklen Gegenstand gestrauchelt, und wie sie niederblickt, erkennt sie den leblosen Leib dessen, den ihre Forderung tags zuvor ins unzugängliche Gebirg getrieben. Noch hält die starre Hand des Toten einen Strauss Flühblumen fest, die oben an den gefährlichen Stellen gepflückt, dem Sammler den Untergang gebracht hatten. Schreck und Reue brechen jetzt auch des Mädchens Herz und leblos sinkt sie neben der Leiche Hansens zur Erde. Drei Tage darauf schliesst sich über den beiden das gleiche Grab. Dort aber, wo das Blut des Gestürzten den Rasen gefärbt, wächst bald darauf ein Busch empor, der mit seinen Purpurblüten hinfort an das traurige Ende zweier Menschenherzen erinnert, die nicht verstanden haben, wie Liebe zu geben und wie sie zu nehmen. Die Blume aber, die aus dem Blute empor gewachsen war, nannten die Leue Alpenrose.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.