Das oberste Tal der Siebne oder Simme war noch ein schwach besiedeltes Waldtal. Am Fusse des Räzliberges wohnten Heiden. Zu ihnen stieg eines Tages über den wilden Bergweg, der vom Wallis in diesen stillen Winkel führt, ein Fremdling namens Stephanus. Dem furchtbaren Blutgericht, welches Maximinian an seiner thebäischen Legion im Jahre 303 im jenseitigen Tal der Rhone angerichtet, war Stephanus eben entronnen und fand nun hier im Gebirge bei den schlichten Hirten eine Zufluchtstätte. Sie halfen ihm eine Hütte bauen, was er ihnen durch mancherlei Künste, die er in fernen Landen erlernt, wie auch durch seine Heilkunst vergalt. Er zeigte ihnen den Gebrauch von Werkzeugen, die sie bisher nicht gekannt hatten und unterrichtete sie im Pflanzen der Obstbäume. Aber er bereitete auch der Lehre vom Christengotte Eingang in diesen Tälern, baute neben seiner Hütte ein hölzernes Gotteshaus und predigte den Talbewohnern das Evangelium bis in sein hohes Alter. Hatte der Klausner Stephan schon im Leben hohes Ansehen genossen, so stieg dasselbe bei seinem Tode zur Verehrung. Alles was Stephanus im Leben auf natürliche Weise vollbracht erschien nach demselben seinen Verehrern als Wirkung einer übernatürlichen Kraft. Sein Grab wurde daher im Laufe der Zeiten zu einer besuchten Wallfahrtsstätte. Man grub seine Gebeine aus und verwahrte sie in einem steinernen Sarge. Denselben umgab man samt Stephani Kreuz, Spiess und Schwert mit einem Gitter, dass niemand die Reliquien entwenden möge. Jahrhundertelang wurde nun zu dieser Stätte gewallfahrtet, den Stephanus war auch durch den Papst heilig gesprochen worden. Als am Anfang des 15. Jahrhunderts, das Dörflein, das sich nach seinem Heiligen
Sankt Stephan nannte, wie es noch heute heisst, ein eigenes Gotteshaus erhielt, wurden seine Gebeine hier untergebracht und bis in die Zeiten der Glaubenserneuerung hoch verehrt.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.