Im Grindelwaldtale herrschte das grosse Sterben. Da sahen eines Tages die Leute von Lauterbrunnen, die lange von dem wütenden Tode verschont geblieben waren über die Wengernalp ein weisses Wölkchen daherfliegen und sich im Schiltwalde niedersetzen. Es war die Pest. Die Lauterbrunner Leute hatten die fürchterliche Landplage in ihr Tal gerufen, weil sie übermütig geworden waren und in der Kirche einen zweiten Lettner angebracht hatten.
In Wengen oben begann das Sterben. Aber die Leute nahmen es nicht besonders ernst. "Morgen bringen wir wieder eine neue Lieferung", pflegten sie zu sagen. Aber wie es der Toten immer mehr werden, wie sie schliesslich nicht einmal mehr nötig haben, ins Tal zu gehen, da erstirbt der Spott. Nur noch bis zum Mehlbaum halbwegs ins Tal geht ihr Bote. Von dort ruft er lediglich die Zahl der Toten und der nötigen Gräber hinab.
Als einmal die Totenschauer einen Weiler des Tales durchschritten, betraten sie, ihres traurigen Amtes waltend, ein Hüttchen, das ausgestorben schien. Da ertönte plötzlich hinter dem Ofen hervor Grossmütterchens Stimme, das allein übriggeblieben war: "Wenn`s jetzt nur mit dem was gestorben ist, sein Bewenden hat, will ich schon zufrieden sein!" rief sie.
Ein junger Mann von Mürren wurde in diesen Zeiten von der Pest befallen. Schon zeigten sich schwarze Spuren an einem Finger. Kurz entschlossen hieb sich der Bursche die Fingerspitze ab und steckte dieselbe in die Ritzen des Balkenwerks seiner Hütte. Er genas auch bald und zog hernach in die Fremde. Wie er wieder heimgekehrt ist, verfällt er eines Tages auf den Gedanken, sein abgeschnittenes Fingerglied wieder zu betrachten. Er fängt an zu suchen, findet den verdorrten Stummel richtig und zieht ihn hervor. Da wurde plötzlich sein ganzer Körper schwarz und wenige Tage darauf war er eine Leiche. Die Pest hatte nach so langer Zeit ihr Opfer dennoch gefordert.
In Gimmelwald bleib ein Haus ein Jahr lang ohne Giebel denn es starben alle, die daran bauten.
Zu Lauterbrunnen, in der sogenannten Zuben wurden in ein Haus zwölf Wiegen getragen. Die Eltern der Kindlein waren alle gestorben.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.