Es gab eine Zeit, da befehdeten sich die Leute diesseits und jenseits des Brienzergrates und des Brünigs. So überfiel einmal eine Schar Unterwaldner die Älpler auf Planalp am Brienzer Rothorn. Sie ermordete die Sennen, indem sie dieselben in die siedende Molke warf. Ein Hirtenjunge, obwohl übel verwundet, entrann, lief an den Rand der Mühlbachfluh und schrie von hier aus durch den Follentrichter, durch welchen er sonst abends den Segen von Alp zu Alp zu rufen gewohnt war, gegen Brienz hinunter um Hilfe. Im Dorf kamen die Leute eben aus der Kirche. Die Geliebte des Alpsohnes erkannte dessen Stimme und feuerte daher die Bewohner an, den Gefährdeten Hilfe zu bringen.
Einen anderen Hirtenknaben hatten die Unterwaldner ebenfalls am Leben gelassen, denn es war ein nebliger Tag und sie fürchteten sich zu verirren. Damit der Bub ihnen nicht entlaufen könne, banden sie ihm die Hosenbeine zu und füllten ihm dieselben mit Steinen. Er war aber listig. Auf baldige Hilfe rechnend, führte er die Feinde, um sie recht lange aufzuhalten, mit dem geraubten Vieh im Nebel durch die "lange Kehre" bergwärts und durch die "kurze Kehre" wieder zurück. Damit aber die Freunde wissen möchten, wo die Viehräuber stecken, sang er im Nebel ununterbrochen den Namen der Leitkuh:
Lugga, Lugga, du gute Chue,
Du muesch gan Unterwalden zue.
Bei einer Stelle, die noch heute "Mordstyen" genannt wird, überraschten endlich die «Brienzer ihre Feinde, brachten denselben eine Niederlage bei und jagten sie unglimpflich zum Lande hinaus. Auf jenem Platze hat man vor nicht langer Zeit noch" Mordstyen" (alte Waffen) und ein verrostetes Schwert ausgegraben.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.