In der Umgebung der Burg Weissenau am Einfluss der Aare in den Thunersee, lebte ein Bauer, gewaltig von Gestalt, ein stolzer und verschlossener Mann. Als er schon betagt war, hatte er ein junges Weib gefreit und eine blühende Tochter hatte diese ihm geschenkt. Als die Frau einer Krankheit erlag, blieb die Tochter der Sonnenschein des alten Vaters. Die Schönheit des Mädchens war im Tale nicht unbemerkt geblieben. Ein Mönch aus dem Kloster Interlaken, jenseits der Aare war für das holde Wesen entbrannt. Eines Tages verfolgte er sie beim Beerenlesen an den Abhängen des Harders. Als sie ihm aber im neckischen Spiele immer wieder durchs Dickicht entschlüpfte lief sie dem Freiherrn von Weissenau in die Hände, der von der Jagd vom Berge niederstieg. Berauscht von dem Liebreiz des Mädchen vermochte er dieses dadurch auf die Burg zu locken, dass er ihm golden Geschmeide, Kettlein und Ringlein versprach. Nach kurzer Zeit hatte er das Kind so betört, dass es mit ganzem Herzen an ihm hing. Trotz der inständigen väterlichen Bitte wollte es das Schloss nicht mehr verlassen. Der Vater aber sah in dem Ritter nur den Verderber seiner Tochter. Er schwur blutige Rache.
Der Freiherr hatte die Gewohnheit, jeden Sonntag in der Kirche von Unterseen die Messe zu hören und er und seine Lehensmänner ritten dabei stets auf schönen Schimmeln zum Städtchen. Darauf bauten die grollenden Bauern unter der Führung jenes im Herzen verletzten Greises ihren Plan. Es gelang ihnen, mit vieler Mühe und grossen Kosten eine Anzahl weisser Rosse und Rüstungen zu beschaffen. Am nächsten Sonntag stand das junge Mägdlein auf der Zinne der Burg Weissenau. Plötzlich sah es die lange schnurgerade Strasse von Unterseen her eine Schar Ritter auf Schimmeln daher stürmen, verfolgt von einer grossen Menge Bauern mit Spiessen, Morgensternen und langen Schwertern. Man war auf einen ähnlichen Auftritt schon lange gefasst gewesen, da man den gärenden Zorn der Bauern kannte. Die Frau auf der Zinne gab dem Burgwart das Zeichen und rasch wurden die Bedrängten eingelassen.
Zu ihrem Entsetzen aber sah die Frau von oben herunter, wie die vermeintlichen Ritter im Burghof angelangt, die Schwerter zogen und auf die Mannschaft einhieben. Sie erkannte auch bald das graue Haupt ihres Vaters, der an der Spitze der Eingedrungenen mit gewaltigem Arm das Schwert führte wie der geübteste Ritter. In der Verzweiflung und sein Leben bedroht sehend, tritt das Mädchen an die mit Steinen gefüllte Schleudervorrichtung, zieht den Pflock und lässt die tödlichen Geschosse auf die Eindringlinge niederprasseln. Zerschmetternd fährt die Ladung in die Reihen der Bauern. Die junge Frau aber, zu wenig bekannt mit der gefährlichen Vorrichtung, wird in unvorsichtiger Kraftanstrengung mit hinausgerissen über die Brüstung, einen Augenblick flattert das weisse Gewand in der Luft, dann liegt die jugendliche Gestalt zerschmettert auf den zuckenden Leibern des Feindes. Jammernd stand der alte Vater, welcher dem verderblichen Steinfall entgangen war, an der Leiche der Tochter.
In furchtbarer Wut machten sich nun die Überlebenden an die Verfolgung des Ritters. In der Kirche hatte dieser von dem Überfall Kunde erhalten und flüchtete sich zunächst nach Matten, dort liess er seinem Pferde die Eisen umgekehrt an die Hufe heften. Durch diese List entkam er ins Habkerental und später über den Grünenberg ins Entlebuch.
Seit diesen Zeiten zeigt sich bei Weissenau je und je eine weisse Frau. Es ist die unglückliche Jungfrau, die ihre ewige Ruhe nicht finden kann. Niemand wagt es ihr zu nahen, denn ein fürchterlicher Hund mit tellergrossen Augen, nämlich der verzauberte lüsterne Mönch, bewacht sie und die Burgtrümmer, und nur unter ganz bestimmten schwierigen Bedingungen wird die Erlösung der Geister und die Hebung des dort befindlichen Schatzes möglich sein. Wem aber das Unternehmen misslingt, der ist dem Tode verfallen.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.