Da, wo der Niesen das Wolkenmeer zerzaust, stand vor alten Zeiten ein kleines Häuschen, worin ein braves Ehepaar lebte. Der Mann war ein guter schlichter Bauer, dabei vergnügt und fröhlich, dass kaum ein Tag verging, da er nicht bei Sonnenaufgang sich jauchzend und singend an die Arbeit machte. Eines Morgens aber war sein Jodel verstummt. Trübe schlich er daher und sein Gesicht zeigte eine befremdliche Blässe. Krankheit hatte ihn übernommen und Kummer kehrte jetzt in das freundliche Häuschen ein. Eines Morgens, wie ihn die wackere Hausfrau wiederum mit fahlen Wangen an die Felswand gelehnt findet, will ihr fast das Herz brechen über dem Anblick. Um ihren Schmerz zu verbergen, eilt sie in den Wald hinaus. Dort fällt sie auf die Knie, um ein inbrünstiges Gebet zum Himmel empor zu senden. Kaum hat sie geendet, sieht sie plötzlich in einem überirdischen Scheine einen Zwerg vor sich stehen. Er trug eine Krone auf dem Haupte und ein Szepter in der Hand. "Ich bin der Zwergkönig des Niesens", sprach er. "Erschrick nicht gute Frau, ich bringe dir nur Gutes. Siehst du dort oben jenes Gebüsch? Dort fliesst seit Jahrhunderten eine Quelle. Aber sie blieb bis heute den Menschen verborgen. Steige hinauf, schöpfe aus dem Quell und gib deinem Manne zu trinken. Er wird dir gesunden." Damit war der Zwerg verschwunden. Die Frau aber erhob sich getrösteten Herzens. Sie tat, wie sie geheissen ward und gab dem Kranken fleissig aus dem Quell zu trinken. Wie durch ein Wunder genas er und das Glück kehrte wieder in dem Häuslein am Fusse des Niesen zurück. Seither ist der Brunnen im Heustrich am Niesenberg als Heilquelle bekannt.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch