Die Freiherren von Unspunnen-Rotenfluh hatten im Lande einen bösen Ruf. Sie pressten das Mark aus ihren Untertanen und bedrückten sie auf jede Weise. Es wurde ihnen auch nachgesagt, dass sie den Mädchen des Tales mit ihren Begierden nachstellten und über manches friedliche Heim Weh und Unglück gebracht hätten. So erblickte Freiherr Roland zu Wilderswil, einem Dörflein, das zu seiner Herrschaft gehörte, einst ein lieblich Mägdlein am Brunnen. Das unschuldige blaue Auge und die Pracht ihrer blonden Zöpfe hatten es ihm angetan. Als er des Kindes Wohnung ausfindig gemacht hatte, ritt er dorthin, klopfte mit dem Degenknauf an die Türe und begehrte von der erschreckt herausfahrenden Mutter kurz und bündig, dass sie ihm die Tochter als Dienstmagd hinauf auf die Burg gebe. Alles Sträuben der Mutter, die ihr einziges Kind nicht preisgeben wollte, war umsonst. Die Schlossknechte kamen abends und holten das Mädchen mit Gewalt. Auf dem Schlosse aber ging es gerade hoch her, da der Burgherr seinen Freunden ein Festgelage veranstaltete. Sofort musste das Dorfkind Wein auftragen und ward nun den Augen und Zungen der weinfröhlichen Edelleute ausgesetzt. Rolands Frechheit selbst kannte keine Grenzen. Darum lief das Mädchen hinaus auf den Schlosshof und weinte
bitterlich. Da trat aus einem Gebüsch plötzlich der Gespiel des Mädchens hervor, dem sie sich im Stillen verlobt hatte. Er hatte den Gewaltstreich des Burgherrn vernommen und kam jetzt, mit eigenen Augen Zeuge zu sein. Als er das Herzeleid seiner Geliebten erfuhr, war er von tiefem Ingrimm erfasst "Gehe hinein", sprach er dann, von einem raschen Gedanken erfasst, zu ihr. "Wenn sie dich wieder heissen, die Becher zu füllen, so tue
ungeschickt und stosse den Leuchter um. Stelle denselben dann rasch auf und stelle ihn gerade vor den Burgherrn. Das Mädchen versuchte die Absicht des Geliebten zu erfragen er aber hiess sie ungeduldig hinein gehen. Als sie den Saal wieder betrat, war eben ein grosses Geschrei nach ihr. Die Becher waren alle geleert und die Trunkenen wollten von niemandem Wein als von ihr. Da trat sie mit dem Kruge zum Burgherrn schenkte ihm den Pokal bis zum Rande ein und stiess zugleich mit dem Ellbogen den Leuchter auf dem Tische um. Behende machte sie ihr Ungeschick wieder gut, hob den Leuchter auf und stellte ihn mit zitternden Händen, als ahnte sie ein schweres Ereignis, vor ihren Bedränger.
In diesem Augenblicke flog hinter der Reihe der Tafelnden das Söllerfenster auf, als wäre es von einem Windstosse geöffnet. Eine Armbrust blitzte draussen im Dunkel auf und ein Pfeil zischte hinein. Zu Tode getroffen aber sank der Freiherr vom Tische. Da er keine Nachkommen hatte, war das Land von einem Wüterich befreit.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.