Herr Heinrich von Strättlingen hing nicht an Gold und Gut. Das Gold, welches sein Herz allein glücklich zu machen vermochte, waren die Klänge, die er den Saiten seiner Laute entlockte, die Lieder, in welchen er die Wunder der Welt und die Schönheit der Frauen pries. Doch auch in der Minne betörten ihn nicht Glanz noch Reichtum. Es konnten ihn weder Stolz noch Hoffart der Rittertöchter ringsum im Lande blenden. Drüben überm See am Hünibache wohnte ein fromm Mägdelein, Ita geheissen. Ihr hatte er seine Liebe geschenkt. Itas Vater, Gerhard, war durch die Unbill der Zeiten um Hab und Gut gekommen und darüber im Gram gestorben. Der Himmel aber hatte es gefügt, dass Herr Heinrich nun sein Herz dessen verlassenem Kinde ergab. Oftmals kam er nächtlicherweile vom Schlosse seines Vaters im kleinen Kahne herüber gerudert, ganz allein. Mit brennendem Kienholz, dreimal im Kreise geschwungen, gab er von der Höhe des Sees der Herzallerliebsten ein Zeichen seines Kommens. Dann landete er der Aue gegenüber und fand die Holde bei dem kleinen Stege, der über den Bach geht, warten. Er führte sie zum Bächiholz unter die Buchenbäume. Alsbald sassen die beiden vertraut und in Minne unterm Waldeszelt.
Menschlich Geschick aber ist wandelbar und Liebesglück unstet. Wo Tauben sind, da sind die Geier auch nicht weit. So geschah es, dass Herr Wolfhart, der Zwingherr von Oberhofen, eines Tages zu jagen ausritt und am Hause vorüberkam darinnen Ita mit ihrer frommen Mutter wohnte. Er sah das Fräulein in ihrem Wurzgärtlein stehen und hielt an, sich ob ihrer lichten Schönheit zu wundern. Da Wolfhart aber ungeschlacht und hässlich von Angesicht war, getraute er sich nicht, in offener Minne um die Holde zu freien. Er sann daher Untreue und Hinterlist. Des Nachts liess er einst das Fräulein durch seine Knechte fangen und hinweg nach seinem Schlosse führen. Er hatte ihnen befohlen, Itas Schappel und Handtüchlein in das Wasser zu werfen, um die Leute irre zu führen. Bald ging daher im Lande das Geschrei aus, schön Ita sei im See ertrunken. Inzwischen litt das Fräulein in der Gefangenschaft des Schlosses bittere Not. Denn als sich Herr Wolfhart von ihr verschmäht sah, liess er sie in einen finstern Turm werfen, darinnen er schon manchen seiner Widersacher hatte verderben lassen. Als Herr Heinrich nun des Unfalls inne wurde, von welchem er sein Lieb betroffen wähnte, war sein Herz über alle Massen traurig. Er riss sich im Jammer sein goldenes Haar aus und weinte laut und herzebrechend. Dann setzte er der vermeinten Hingeschiedenen mit eigenen Händen einen Marmelstein, darauf er ein abgebrochenes Veilchen geschnitzt hatte. Auf dem Steine stand geschrieben:
Mir tät für minen ganzen Lenzen
Ein einzig Blümlein gnuog erglänzen;
Nun Ita niederliegt, mein Veil,
Wird auch kein Frühling je mein Teil.
Herrn Heinrich aber litt es hinfort nicht länger im Lande. Er zog nach seinem tiefen Kummer in die Ferne und kam an den Hof des Herzogs von Schwabenland, dort zu versuchen, ob er im Geräusch der Welt sein Herzeleid verwinden möge. Allein immer blieb die gebrochene Blume seiner Jugend vor seiner Seele, dass er sich weder an der Fluren Blüte, noch an seinem Saitenspiel mehr erfreuen konnte.
In dieser Zeit geschah es, dass Ritter Wolfhart eines unversehenen Todes erblich. Darnach gab sein Sohn allen denen die Freiheit, welche im Turme schmachteten. Unter ihnen befand sich auch Fräulein Ita, die jetzt dem Marterbilde unserer lieben Frauen eher glich als einer blühenden Jungfrau. Sie fand ihre Mutter noch am Leben und war über das Wiedersehen mit ihr in tiefster Seele dankbar. Da geschah es, dass sie eines Tages in stillem Gedenken ihres einstigen Glückes zum Buchenwalde im Bächi wallte. Wie gross war aber ihr Erstaunen, als sie an der Stätte, da sie einst mit dem Geliebten so traute Stunden verlebt, ihren eigenen Grabstein fand! Was sollte sie beginnen? Wo war er, - ihr ein und alles - der ihrer in Leid und Treuen also gedacht? Er mochte gestorben sein, denn so fleissig sie sich auch hernach seines Bleibens erfragte, ward ihr doch keine Kunde geworden. In ihrer Herzenseinfalt wusste sie darum nichts Besseres zu beginnen, als neben dem Steine mit dem gebrochenen Veilchen einen zweiten aufzurichten. Es sollte derselbe ein Zeichen ihrer unverwelklichen Hoffnung sein, darauf sie ein zweites Veilchen graben liess, jedoch hochaufgerichtet.
Es begab sich aber, dass Rudolf, der alte Herr von Strättlingen, sein Ende kommen fühlte und nach seinem Sohne Heinrich in die Fremde sandte, ihm Schloss und Herrschaft zu überantworten. Herr Heinrich war der Pracht und Hoffart in deutschen Landen überdrüssig und eilte, da er des Vaters Botschaft empfing, mit Sehnsucht der Heimat zu. Als er nach langer Reise zu Thun einritt, drängte es ihn mächtig, vor allem anderen die Stätte seines Liebesglückes zu schauen. Er trieb ungesäumt sein edles Ross hinüber zum Buchenhain im Bächi. Wie gross war aber sein Staunen, als er bei dem einen einen zweiten Marmelstein fand. "Sie lebt!" rief er. "Das hat nur sie getan!" Und vor unbändiger Freude ritt er hin zu dem Hüttlein, darinnen er einst so fröhliche Stunden erlebt. Allda fand er, die er so lange Jahre als tot betrauert hatte. "Da hätt’ ob all dem Herzen und Küssen kein Bienlein unerdrückt können inmitten sein", erzählt der Chronist. Am späten Abend erst brach Herr Heinrich nach seiner Heimat auf und ritt ein gut Teil der Nacht, bis er zu seinem Vater kam, den er siech und kummervoll seiner harrend fand. "Sei mir gegrüsst!" rief der Alte, "du mein Einziger, in welchen ich meine ganze Zuversicht gesetzt! Nun kann ich im Frieden dahinfahren."
Des alten Vaters Hoffnungen waren nicht umsonst. Herr Heinrich tat sein Bestes, sie zu erfüllen. Die Herrschaftsleute waren ihm darum sehr zugetan. Als dann der alte Freiherr zu den Ahnen gegangen war, holte der neue Herr sein holdes Veil vom andern Ufer und setzte es als Schlossherrin herrlich an seine Seite.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.