Sonst, wenn der Frühling mit Schalmei und Blumenkorb durch Berg und Tal wanderte und die frohen Sennen ihre Herden wieder zur Alp getrieben hatten, vernahm man fast jeden Morgen von der Kaltbrunnen-Alp her, im Haslital, die Töne zweier Alphörner, die sich in melodischer Zwiesprache Red- und Antwort gaben. Längst sind sie verstummt und nur die Flühen sollen zuweilen ein geisterhaftes Schluchzen und Weinen von sich geben.
Auf jener Alp hirtete nämlich in alten Zeiten ein wunderschöner Jüngling seine Herde. Die Leute rühmten ihm nach, dass er ein Instrument von mächtigem Klange erfunden habe, mit welchem er das schönste Echo am fernen Fels erwecken könne. Das erste dieser Hörner, das seine geschickte Hand verfertigt hatte, schenkte er seiner Geliebten, einer Sennerin, welche nicht sehr fern von ihm, auf der Reichenbachalp den Sommer zubrachte.
Nicht lange, und das Mädchen hatte dem Jüngling die Kunst des Blasens vollkommen abgelernt.
Früh morgens, wenn die Sonne mit ihren Purpurstrahlen die Firnen vergoldete, folgte der Hirt seinen Kühen auf die Weide setzte sich ins Grüne, oder lehnte sich an einen Felsen und blies ein fröhlich Stücklein auf seinem Alphorne. Bald erschien dann auf der Alp gegenüber das Mägdlein, ihm Antwort zu geben, wie er’s ihr gelehrt. Bald bliesen sie selbander eine zweistimmige Melodie, bald hörte man wieder nur leise den Einzelnen. So unterhielten sich die beiden Liebenden manche glückliche Stunde miteinander, ihre Herzen verbanden sich noch inniger und im Herbst, ehe sie zu Tal zogen, ein jedes nach einer andern Bergseite, gaben sie sich das Gelübde, einander übers Jahr ganz anzugehören.
Mit dem Frühling kam auch der Jungsenn wieder auf Kaltbrunnenalp Da blies er freudig einen hoffnungsvollen Lenzgruss hinüber. Aber keine Stimme, kein Laut gab ihm drüben Antwort. Da blies er lauter, stürmischer, doch totenstill blieb s auf der Nachbaralp. Endlich aber, als seine Weisen immer sehnsüchtiger anschwollen, kam eine Senne herauf und sagte: "Blas nimmer, du erweckst sie nicht, die drunten im Totenhofe schläft."
Da wurde der Hirt sehr traurig, ergriff sein Horn und schlug`s an einen Felsen, dass es in Stücke zerschellte. Dann schritt er von der Alp hinweg. Niemand weiss, wohin er gegangen und wie er geendet hat.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.