Der Zwerg von Itramen

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Hinter Itramen bei Grindelwald war ein Mann am Heuen. Als er sich just einmal umschaut wie das Wetter werden will, steht ein Zwerglein in langer Zottelmütze neben ihm und bittet ihn um eine Handvoll Heu. Der Bauer sieht den Knirps verwundert an und da dieser nicht grösser ist als ein achtjähriges Büblein erwidert er ihm lachend: "Was du in einer Bürde fortzuschaffen vermagst, kannst du haben!" Der Zwerg schien mit diesem Bescheid sehr zufrieden, machte sich in die Scheune und bald fing es an, aus dem Giebel heraus Heu zu regnen. Es hörte auch nicht eher auf, bis die letzte Gabel voll draussen lag. Das Bäuerlein aber kam vor lauter Staunen kaum zu sich; es traute seinen Augen nicht, als es sah, wie der Zwerg alles Heu in eine Bürde zusammenband und sich anschickte, dieselbe davon zu tragen. "Halt, du Schelm!" rief jetzt der Heuer, "so war die Sache nicht gemeint. Wenn es nach deinem Sinne geht, wirds um mich und mein Vieh im Winter schlecht bestellt sein." Das Zwerglein jedoch antwortete: "Lass nur gut sein, ist all dein Heu verbraucht, so lass mich’s merken." Damit verschwand der Knirps schon hinter dem nächsten Wald. Es kam ein langer Winter ins Land und schon lange vor den ersten

Frühlingszeichen war das Heu bis auf den letzten Vorrat aufgebraucht. Der Bauer wusste sich kaum mehr zu helfen. Wie er nun eines Tages verzweifelt auf dem Heuboden hin- und her geht und in seiner Not nicht Rat weiss, erscheint im Balkenwerk plötzlich der Zwerg und sagt: "Vertraue dein Vieh nur mir an, du aber gehe alle Tage in den Stall und verrichte dein Tagwerk als ob nichts geschehen wäre und deine Tiere im Stall ständen. Nur musst du versprechen, die ganze Zeit kein Fluch- oder Lästerwort zu gebrauchen." Der Mann erklärte sich nach langem Bedenken mit dem Vorschlag einverstanden. Das Zwerglein hatte inzwischen die Herde auf und davon getrieben. Der Bauer sah den Davonziehenden mit langen Blicken nach. Er tat jedoch hernach, wie er geheissen worden war. Freilich konnte er bei dem Füttern und Melken im leeren Stall den Frühling kaum erwarten. Eines Tages wurde er über der törichten Arbeit verdriesslich und fing laut zu fluchen an. Kaum waren die Worte seinen Lippen entschlüpft, war ihm, als höre er die grosse Glocke seiner Leitkuh. Schnell sprang er zum Giebelboden und spähte durch die Luke hinaus. Der Glockenton schien ganz nahe vom Fuss des Eigers her zu kommen, dann hörte man das Geläute der ganzen Sennerei noch näher und jetzt kam richtig seine Herde am nahen Waldrand zum Vorschein, rund und fett, und neben jeder Kuh gleich ein Kälbchen. Auf der hintersten Kuh aber sass der Zwerg. Wie nun der Zug am Stalle eintraf, sprang der kleine Reiter zu Boden, drohte dem Bauer mit dem Finger und rief: "Hätt’st dein Versprechen gehalten, hätt ich das Vieh auch länger behalten." Damit war er verschwunden. Als aber der Senn die letzte Kuh besah, hatte sie nur noch drei Zitzen und er erinnerte sich jetzt, dass er im leeren Stand gerade dieser Kuh in die Luft hineingemolken hatte, als er den Fluch tat.

Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910. 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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