Gegenüber der Mühle in Rued steht auf der andern Seite der Strasse des Junkers Kernenhaus. Der böse Geist, der drinnen wohnt, war da sonst Kernenmesser bei den Junkern von Rued gewesen und hiess Niggeli. Er mass den Kernen noch beim grossen Viertel ein und gab ihn dann beim kleinen Viertel aus. Drum sieht man ihn jetzt noch drüben in der Mühle den grossen Metzenkübel holen, und wenn er ihn mit Ach und Krach ins Kernenhaus geschleppt hat, so schlägt er da den Viertelsstreicher klappernd hin und her. Dann wissen die Leute schon im Voraus, dass bald schlechte Witterung eintritt.
Während man vor etlichen Jahren das alte Kornhaus zum Wirthshaus umbaute, hörte man vom Niggel fast gar nicht mehr reden. Als aber nun der neue Wirth aufzog und den ersten Tanztag abhalten liess, da wüthete und tobte der Kobold so abscheulich herum, als reisse eins einen grossen Bündel Ketten durch alle Stockwerke hindurch. Dann warf er gröblich ein paar Tänzer um, oder einen Tisch, wenn volle Schüsseln oder eingeschenkte Gläser drauf standen, kurz er trieb die Gäste in einen solchen Schrecken, dass einige geschwollene Beine bekamen und andere drüber ernstlich erkrankten. Man musste also von Neuem anfangen, Zimmer und Gänge anders umzubauen, und seitdem hat er nicht mehr viel Angst gemacht. Einige meinen, weil er seinen alten Weg nun nicht mehr finde; Andere, weil er sich wirklich gebessert habe, da man für seine Seelenruhe den Armen im Dorfe noch lange Brod ausgetheilt hat. Aeltere Leute aber behaupten, der Niggel sei der vormalige Junker von Rued selbst gewesen und zur Strafe seines Geizes in ein Ross verwandelt worden. In Wahrheit ist Niggel ein in der Gegend noch üblicher Rossname.
Band 1, Quelle: Ernst L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 1 Aarau, 1856, Seite 294
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch