Ein guter Geist ist das Hauri. Die schönsten Alpen sind sein Wohnsitz. Sein Lieblingsaufenthalt ist aber die Steinbergalp am südöstlichen Abhange des Hohgant, wo eine Stelle seinen Namen führt. Es liebt die Menschen und schützt sie vor dem wilden Treiben der bösen Geister im Gebirg. Wenn diese sich im Frühjahr mit dem schmelzenden Schnee zurückziehen, streift es über die Triften und Halden mit lauem Fittich dahin und lockt die Erstlingsblumen aus dem starren Boden. Es zeigt den Tieren die besten Weideplätze, wo Bränderli wächst und Alpengarbe. Es will aber seine Wohltaten im Stillen tun und wird böse, wenn man von ihm spricht. Darum erzählt der Oberländer nicht gern vom Hauri, denn er ist seiner Hilfe nötig. Im Winter schützt es die Menschen vor den verderblichen Feinden der Lüfte. Darum hört man, wenn die Kobolde eine Lawine zusammengescharrt haben, um sie auf die menschlichen Wohnstätten hinabzuschleudern, eine klagende Stimme in den Lüften, welche die Bedrohten warnt. Oft ruft die Stimme den Namen, oft ist es nur ein eigentümlich wimmernder Laut von der Stelle her, von welcher die Gefahr droht. Zweimal warnt es. Zum dritten Mal aber ist es, als ob Erd’ und Himmel Wehe schrien. Ein heulendes Gewimmer bricht aus allen Schlünden des Gebirgs hervor, die ganze Luft ächzt in ängstlicher Klage und wie ein Gewitterschein fleucht das Hauri über die bedrohte Stelle. Ihm unmittelbar auf dem Fusse aber folgt der Graus der Zerstörung, ganze Berge von Schnee wälzen sich dumpf polternd von den Höhen hinab und hohnlachend stürzen sich, auf losgerissenen Felstrümmern reitend, die sie zu wilden Sätzen anspornen, die Geister des Gebirgs auf die Stätte der Verwüstung. Kurze Zeit ehe vor einigen Jahren eine Lawine das Grimselspital hoch oben im Gebirge von Oberhasli verschüttete, hörte der Knecht, der den Winter über einsam das Haus hütete, das Hauri. Klagend rief es vom Juchliberg her. Die Hunde sprangen unruhig auf, öffneten sich selbst die Türen und flüchteten ins Freie hinaus. Der Knecht, im Glauben, ein Wanderer rufe um Hilfe, eilte ebenfalls vor die Türe. Draussen schien hell und freundlich die Sonne. Um den Juchliberg aber schwebte es in der Luft, er konnte nicht recht deutlich sehen was. Kein Wanderer zeigte sich in der Nähe, noch in der Ferne. Er rief die Hunde, die ziellos umherschweiften und kehrte mit ihnen in die Stube zu seiner Arbeit. Da erscholl der Ton zum zweiten Mal. Abermals suchte er den vermeintlichen Wanderer, der seine Hilfe angerufen, abermals vergebens. Am Juchli aber flimmerte ein rötlicher Schein. Er kehrte wieder in das Haus. Erst als der Himmel über ihm mit schrecklichem Getöse zusammenzubrechen schien, erst dann erkannte er, aber zu spät, den Warnruf. Wie Strohhalme waren die festen Sparren des Daches geknickt und unermessliche Schneelasten vor die Türen gewälzt worden. Jeder Ausgang schien gesperrt und nur die Festigkeit der Mauern hatte das Haus vor gänzlicher Zerstörung, ihn aber vor einem grässlichen Tode bewahrt. Allein im Fliehen hatte das Hauri den Deckel des Kamins aufgeklappt und ihm so einen Rettungsweg geöffnet. Vorsichtig kletterte er durch den Schornstein ans Tageslicht und brachte die Kunde von der schrecklichen Verwüstung ins Tal.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.