Raubold war ein grossmäuliger Schalk, der um nichtsnutziger Dinge willen aus dem Melchtale hatte entfliehen müssen. Er stak in Wolfsfellen und trug an jedem Bein über dem Knöchel eine starke Beinschelle, daran je eine Kette hing, mit welcher er die Leute im Oberhasli schrecken wollte. Als er von Frau Ute hörte, nahm er sich vor, Tag und Nacht auf der Spähe zu sein, und gewaltsam zu erobern, was sie einem Besseren zugedacht.
Eines Tages nun ging ein bildschönes, herzensgutes Haslikind von Willigen nach der Felsenbalm, um Kräuter zu suchen. Unschuldig und arglos hatte sie nie mit einem Wunsche nach den Knaben des Tales geblickt. Sie war den Blumen des Waldes gleich an Schönheit. Nie war vor ihr von Frau Ute erzählt worden, damit kein Lauschen der Neugier auf die Ankunft der Drudin das Herz der Reinen in Wallung versetze.
Wie das herzige Kind nun im Walde Kräuter sucht, vernimmt es plötzlich ein gellendes Schreien, wie wenn jemand Hilfjo ruft. Und wie es durchs Dickicht dem Lärmen zueilt, sieht es den Rücken und das Hinterhaupt eines rotköpfigen Buben. Es war Raubold, der mit erhobenem Knüppel auf ein steinaltes, runzliges Mütterchen dreinschlagen wollte. Mit Ungeschick hebt das Weibchen seinen Krückenstock, den Schlag aufzufangen. Schon ist das Mädchen an des Mütterchens Seite und schlägt mit einem Buchenast auf den Feuerkopf nieder, dass der Bube halb sinnlos zu Boden taumelt. Dann hebt es das Mütterlein wie ein Wiegenkind auf und trägt dasselbe nach der schützenden Felsenbalm. Der Bube aber schleicht sich von dannen. Als nun Frau Ute wieder zu sich kam, griff sie dem Kind ans Kinn, schaute dasselbe mit ihren Luchsaugen an und sang ohne sonst ein Wort zu sagen:
Du, du, ja du
Gibst mir diesmal Ruh!
Aber nimmer-nimmermehr
Komm ich in das Land daher.
Dann winkte Frau Ute dem Mägdelein und führe es geradewegs nach Eisenbolgen. Am besten Hause klopft sie an. Da kommt Egelolf heraus, der gepriesenste Junge des ganzen Berggeländes. Aber Frau Ute, plötzlich zu Kräften gekommen, stellte frei sich hin, legte schweigend die Hand des Mägdeleins in die des Jünglings, drückte ihren Zeigefinger mit einem lötigen Kristallring einmal von oben und einmal von unten auf die verschlungenen Hände, dass ein heisser Strahl in die Zweie drang. Fort war die Zauberin, ehe das Paar sich recht besinnen konnte.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.