In den Bergen Grindelwald hört man oft um Mitternacht ein seltsames Rufen. Es ist das Zeichen, dass der wilde Jäger durch das Tal ziehen wird. Mehr als vierhundert Jahre sind es her, dass an der grossen Scheidegg ein Sennhirt lebte. Einst riefen ihn Geschäfte über Land. Doch ehe er von der Alp ging, wies er den Hirtenbuben an, vor dem zu Bette gehen, die beiden Melkhaustore weit offen stehen zu lassen.
Als nun der Senne von ihnen gegangen war, wunderten sich die Knechte untereinander, was wohl geschehen würde, wenn sie seinen Befehl nicht befolgten. Und um die müssige Frage in der Wirklichkeit zu erproben, schlossen sie vor dem zu Bette gehen die beiden Türen zu. Als nun im Tale die elfte Stunde geschlagen hatte, erhob sich plötzlich in den Höhen des Gebirgs ein furchtbares Brausen, als bräche droben ein Gewitter mit heissem Föhne los. Gleich darnach rief es vor den Toren des Melkhauses mit mächtiger Stimme: "Macht auf die Tore, die Friesen ziehen über den Berg!" Zum zweiten und dritten Mal wiederholte sich der Ruf. Als aber die Knechte drinnen keine Antwort gaben, da fuhr ein Donnerkrachen durch die Luft. Das Dach der Hütte wurde hinweggerissen, dass man von innen die Sterne am Himmel sehen konnte. Und draussen ertönte ein schweres, dumpfes Getrab, als ritten viele Reiter ins Grindelwaldtal. Hintendrein aber folgte unter Kampfgeschrei ein ganzes Volk der Reiterschar nach.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.