Im tiefer gelegenen Vorderland jenseits der Oberländer Berge ertönt, gewöhnlich zur Hochsommer- und Erntezeit, die Luft in seltsamem Tosen und Knallen. Oft vernimmt man es auch gegen den Herbst hin, doch stets nur bei heiterem Himmel. "Es gibt Regen", sagen dann etliche, "bald werden sich die weissen Wölkchen sammeln." "Nein, das sind die Rottalherren", meinen andere aus dem Volk bis gegen Murten und Solothurn zu, oder "die Rottalherren exerzieren, es gibt ander Wetter." Im bernischen Seeland wird dieses Geräusch auch "Murtengeschütz" genannt. Das Rottal oder Rotental war aber ehedem eine wunderschöne Blümlisalp an der Südwestseite der Jungfrau, von wo ein Pass ins Wallis führte. Glücklicher wäre das Los der Bewohner dieses Teiles des Landes gewesen, hätte nicht zu jener Zeit die Willkürherrschaft grausamer Herren auf ihnen gelastet. Allein keiner war seines Eigentums sicher und selbst die Frauen und Jungfrauen des Tales entgingen nicht den Verfolgungen dieser Wüteriche. Ihr gottloses Treiben konnte jedoch nicht ungestraft bleiben. Der Zorn des Himmels erwachte, und als einstmals einer von ihnen, der Böseste von allen, unter welchen das Land geschmachtet hatte, mit seinem wilden Gelüste ein junges Hirtenmädchen verfolgte, kam plötzlich in jähem Sprunge ein grosser, schwarzer Bock, welcher noch niemals auf der Alp erblickt worden war, der fliehenden Jungfrau zu Hilfe. Mit furchtbarem Stosse schleuderte er den Verfolger über die steile Felswand hinab in den Abgrund. Gleichzeitig aber erzitterten ringsum die Firnen und Eisberge und unter herabrollenden Felsstücken und Eismassen verwandelte sich das einst so blühende und fruchtbare Tal in eine traurige Gletschereinöde, die es noch heute ist. Von jenem schrecklichen Augenblicke an wurde das Tal nur noch selten von Menschen betreten.
Zu ewiger Busse verdammt ziehen diejenigen, die den Zorn des Himmels über das Tal brachten, noch heute, ihr Schicksal in dumpfen, eigentümlichen Tönen beklagend, durchs Land. Man hört bald die Trommel schlagen, bald die unseligen Geister auf entsetzliche Weise heulen.
Der Fluch wirkte auch auf die Nachkömmlinge des Geschlechtes fort. Drunten im Tale auf der Feste Rotenfluh hausten zwei Brüder. Das Glück vermochte unter ihnen nicht zu gedeihen, waren doch ihre Seelen von giftiger Missgunst gegeneinander erfüllt. Es beneidete der jüngere unter ihnen den älteren um sein grösseres väterliches Erbe. Als sie aber eines Tages nach dem Saxetental zur Jagd ziehen wollten, stiess der Neidling dem Bruder hinterrücks den Speer in den Rücken, dass dieser zu Tode getroffen zur Erde sank. Brechenden Auges verfluchte er den Bruder. Noch heutigen Tages heisst der Grund dort, dessen Scholle vom Bruderblut gerötet ward, der ungetreue Boden.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.