Durch die Täler und über die Höhen unseres Landes zieht in dunklen, stürmischen Nächten oft ein gespensterhafter Zug, das wilde Heer. Niemandem, der es ruhig seine Bahn dahinziehen lässt, tut es ein Leid an. Wer ihm begegnet, stellt sich zur Seite und lässt die flüsternden Gestalten weiterziehen. Sie kehren auch oft in Stadeln, Ställen und Sennhütten ein. Darum muss man in gewissen Nächten die Türen offen lassen. So hörte einst ein Senn, welcher auf der Gasteren, der gewohnten Lagerstatt im Heu über dem Stalle, schlief, drunten merkwürdige Stimmen, ohne den Sinn der Worte zu verstehen. Vorsichtig schleicht er sich zur Futterlücke, um hinabzuschauen. Er ahnt, das wilde Heer sei bei ihm eingekehrt. Und wirklich, das Nachtvolk ist in seiner Hütte. Die absonderlichen Gestalten haben sich’s bequem gemacht. Einige sitzen um den russigen Herd, wo sie ein lohendes Feuer angesteckt haben, während andere Spiegel, die schönste Kuh im Stalle von ihrem Platze losbinden, sie schlachten und braten und vergnüglich von ihrem Fleisch schmausen. Die Frechheit wurmt den Senn im Innersten. Er springt auf und will dazwischen fahren, besinnt sich aber noch beizeiten und bleibt stumm. Da richtet einer aus der geheimnisvollen Schar sein Auge nach ihm hin und bietet ihm artig einen Bissen Fleisch von seinem Eigentum an. Er schlägt nicht ab und isst das Stück ohne ein Wort zu sagen. Nach vollendeter Mahlzeit verschwindet das Nachtvolk wieder, das Feuer erlischt und der Senn, noch immer gelähmt vor Furcht und Ärger, kriecht auf sein Lager zurück. Des Morgens aber, wie er in den Stall hinuntersteigt, dem Vieh zu warten, siehe, da steht auch der geschlachtete Spiegel wieder am altgewohnten Platze und bringt dem über alle Massen Erstaunten den üblichen Morgengruss dar. Doch, o Wunder! Am Hinterteil fehlt der Kuh ein Stücklein Fleisch und bei genauem Zusehen sagt er sich, es ist just der Teil, welchen ich selbst in der Nacht gegessen habe. Denn mit sich spassen lässt das Nachtvolk nicht.
Ein Senn von Habkern ging auf die am Fusse des Hohgants liegende Alp Ällgäu, um seine Kuh zu suchen. Als er sich mit der Gefundenen auf den Heimweg machen wollte, nötigte ihn die hereinbrechende Dunkelheit, in einer Hütte auf Wydegg ein Nachtlager zu beziehen. Um Mitternacht hörte er draussen ein Gebrumme wie von einer sich der Hütte nähernden Menschenmenge. Dann wurde die Hüttentüre aufgesprengt. Hinein zog der nächtliche Zug und stellte einen schwarzen Sarg auf den Boden. Nachdem die Teilnehmer seine Kuh geschlachtet, gebraten, verzehrt, und ihn gezwungen hatten, mitzuessen, zogen sie wieder davon.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.