Vor vielen hundert Jahren lebte einst im Berner Oberlande ein reicher Senn, der eine einzige Tochter hatte. Diese war im Stillen einem armen Sennen zugetan. Der Vater aber schmälte sie über diese Liebe und wollte sie zwingen einen vielbegüterten Nachbarssohn zum Manne zu nehmen. Das Mädchen war darüber Tode betrübt, sprach nichts mehr und war eines Tages vom Hofe verschwunden. Es hatte sich aber in das Gebirge geflüchtet um den lästigen Nachstellungen des Nachbarn zu entgehen. Um sein Leben zu fristen, hatte das Kind nichts mitgenommen als eine Ziege. Droben in der Wildnis stand eine alte zerfallene Hütte. Niemand wagte sich, dort hinauf zu gehen, weil drinnen ein abscheulicher Lindwurm hauste, schwarz und volle drei Klafter gestreckter Länge. Aber das Mädchen machte sich nichts daraus. Gerade dort mochte ihm die einzige Sicherheit gewährt sein. Es hatte eben seine Ziege gemolken und trat in die Hütte, um vor der heissen Sonne ein Obdach zu finden. Da rauschte es in dem Laube, das hoch aufgeschüttet am Boden lag und früher den Hirten zum Lager gedient hatte. Rund um sich selber gekrümmt liegt auf demselben der kohlenschwarzfleckige Lindwurm, krampfig gewunden und matt das Haupt erhebend. Von des Tieres Haupte glänzte ein prächtiges Krönlein in regenbogenfarbigem Demantschein. Herzhaft trat das Mädchen näher, denn es konnte auf den ersten Blick sehen, dass der Lindwurm schmachtete. Flugs bot es demselbigen in der hohlen Hand von der frischen Milch dar, und gierig trank das lechzende Untier davon. Plötzlich verkroch es sich aber im Laube, nahten sich doch draussen feste Tritte der Hütte. Es war der arme Herzallerliebste des Mädchens, der auf der Nachbaralp hirtete und seinen Schatz hatte heraufsteigen sehen. Besorgt, es möchte ihm in der verrufenen Hütte ein Leid geschehen, war er herübergekommen. Er erschrak sehr, als er das Mädchen in der gemiedenen Hütte fand. Sie aber beruhigte ihn, indem sie auf das kranke Untier zeigte. Nun setzten sich die beiden unter das Vordach der Hütte, um sich gegenseitig das Herz auszuschütten. Als nun der Sennenknabe hörte, was im Tale geschehen, war sein Entschluss rasch gefasst. Unverweilt führte er die Geliebte zurück in das Dorf. Keck trat er vor den harten Vater und warb um die Hand der Tochter. Stolz wies ihn dieser, dem er zu gering war, mit Schelt- und Fluchworten von der Türe hinweg. Die Strafe blieb nicht aus. Bald verschwanden dem reichen Bauern die Kühe eine nach der andern von der Alp. Die Leute sagten, der Lindwurm habe sie verschlungen. Was noch verblieb, das raffte eine böse Seuche hinweg. Die Habe des armen Älplers aber mehrte sich zusehends von Tag zu Tag, so dass er im Herbste mit reichem Segen zu Tal kam. Arm war der eine, reich der andere geworden. Doch im Glücke war dem so wunderbar Gesegneten die Stimme des Herzens nicht verstummt. Kaum war er zu Tal, klopfte er wieder an der Türe des Hartherzigen. Und siehe, diesmal tat er keine Fehlbitte. Mit Tränen auf den verhärmten Wangen führte ihm der Vater die Tochter zu. Bald wurde die Hochzeit gefeiert. Fröhlich sassen die Geladenen beim Festmahle. Da hörte man plötzlich ein furchtbares Brausen in der Luft, und wie von unsichtbarer Hand öffnete sich die Türe des Saales. Herein schoss der Lindwurm. Er trug auf seinem Rücken ein strahlendes Weib, weiss wie Schnee und mit Rosenwangen, auf dem Haupte eine Krone mit reichem Geschmeide. "Ich bin die Schlangenkönigin", sprach sie. Nicht um das Fest zu stören, bin ich gekommen sondern meinen Dank auszusprechen, dass mich diese Braut hier gepflegt, als ich krank und elend lag. Hier", sprach die Schlangenkönigin zu jener, "nimm dieses Krönlein zum Lohn, es wohnen ihm herrliche Kräfte inne. Bleibe auch hinfort den Kranken im Tal und den Armen Trost und Hilfe!"
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.