Als Hans, ein braver Guttanner Mann, eines Tages im tiefsten Winter von seiner Hütte in die Berge ging, sein Losholz zur Heimfahrt zu rüsten, hörte er unterwegs hinter einem Felsen plötzlich ein eigentümliches Wimmern, als ob ein Kind vor Schmerz schreie. In seiner unerschrockenen Art sprang Hans, die Axt in Bereitschaft haltend, hinter den Steinklotz. Dort wurde er zwischen den Stämmen der Tannen eines abscheulichen Stollenwurmes ansichtig, der mit den Ringeln seines Leibes etwas zu erwürgen suchte. Beherzt sprang der Holzer hinzu und schlug dem Untier mit seiner Axt den Kopf entzwei, dass dessen schwarzes Blut den Schnee ringsum verfärbte. Erst jetzt sah Hans, dass ein Zwerg das Opfer des Stollenwurmes gewesen war. Er nahm das Wichtelmännlein auf seine Knie, rieb ihm die Schläfen und träufelte ihm aus seiner Flasche einige Tropfen des belebenden Enzenwassers ein. Endlich schlug der Zwerg die Augen auf und blickte seinen Retter dankbar an. "Kennst du mich nicht?" fragte er dann. Hans besann sich. Er musterte die kleine Kreatur vom Kopf bis zu den Füssen. "Gesehen", erwiderte er, "habe ich dich noch nie, allein von deinem grossen weissen Bart, deinem roten Mantel und deiner gold’nen Krone hat mir mein Mütterchen erzählt." "Du hast mich gerettet", sagte der Zwergenkönig. "Ich wollte eben bei der Zwergenprinzessin zu Besuch, denn heut’ über acht Tage wollen wir Hochzeit halten. Du sollst mit von der Partie sein. Ich lade dich und deinen Schatz Marie dazu ein." Damit war der Zwerg verschwunden. Als Hans aber am Abend seinem Mädchen das Erlebnis mit dem Stollenwurm erzählte, war es sehr erstaunt und berichtete ihm von einem Traume, den es gehabt habe. Sie habe, sagte Marie, in einer blumigen Wiese geschlafen, da sei ein winziges Männlein zu ihr gekommen und habe ihr einen Blumenstrauss gebracht, um sie ebenfalls zur Zwergenhochzeit einzuladen. Nun war keine Frage mehr, dass die beiden dem Hochzeitsfeste beiwohnen würden. Der Tag brach an, ein wahrer Wundertag, denn der Winter war plötzlich über Nacht verschwunden, der Föhn hatte die Täler rein gefegt. Die Weiden waren grün geworden, es blühten Enzian und Alpenrose darauf um die Wette. Im Festgewand schlichen Hans und Marie sich ungesehen daheim fort, weil der letzteren Vater, der seiner einzigen Tochter einen reichen Burschen ausersehen, ihr Beisammensein nicht gelitten hätte. Rasch stiegen Hans und Marie hinter dem Dorfe den Grimselweg hinan. Kaum erblickten sie die ersten Hütten der Handeck, als auch schon eine Tür aufsprang und ein niedliches Hochzeitsgeleite heraustrat. Dessen Führer kam auf die beiden Talbewohner zu und teilte ihnen mit, dass der König sie oben im Rätrichsboden erwarte. In aller Pracht und Herrlichkeit war dort die Hochzeit zubereitet. Ein purpurnes Zelt stand aufgerichtet und die Vögel des Himmels wetteiferten im Gesang mit den kleinen Musikanten. Da kam auf gold’nem Wagen der Zwergenkönig mit seinem niedlichen Prinzesschen herangefahren, um die Ankömmlinge zu begrüssen. "Heute feiere ich mein Glück!" rief der König Hans zu, "du übers Jahr das deine!"
Drei Tage dauerte die Hochzeit, drei Tage der Frühling und eben solange das freudige Beisammensein von Hans und Marie.
Zum Abschied begleitete das Hochzeitspaar die Dorfleute bis zum Schwiböglein im Rätrichsboden. Dort bückte sich der König, hob drei Steine auf und gab sie Hans. "Bewahre sie wohl", sprach er, "bedarfst du meiner, so wirf einen Stein ins Wasser und rufe mich." Mit diesen Worten schieden sie voneinander.
Schlecht war der Empfang, der den Beiden im Dorf zuteil wurde. Maries Vater schalt sie eine liederliche Dirne und verbot ihr hinfort jeden Umgang mit dem Geliebten. Da gab es der trüben Tage gar manche, da der Herzenskummer Hans fast zur Verzweiflung trieb. Eines Nachts aber wachte er von einem glutroten Scheine auf. Das Haus der Eltern seiner Herzallerliebsten stand in Flammen. Hans war der erste auf der Brandstätte. Schon legte er die Leiter an. Überall wichen die Flammen vor ihm zurück. Zuerst rettete er Marie, dann deren Eltern. Da Haus aber, das schönste im ganzen Dorfe, brannte nieder und sein Besitzer war ein armer Mann. Hans wusste, was er zu tun hatte. Er nahm die Obdachlosen zu sich. Und jetzt weigerte sich der Vater nicht mehr, ihm Mariens Hand zuzusagen. Vor dem Kirchgange warf er einen Stein ins Wasser und lud den Zwergkönig mit lauter Stimme zum schönsten Lebensfeste ein. Aber der Zwergkönig liess sich nicht sehen. Als die Hochzeitsgäste sich jedoch um den Tisch gesetzt hatten und Hans eben den Deckel der Schüssel abhob, um die Suppe auszuteilen, wer beschreibt sein freudiges Erstaunen, als er darinnen lauter blanke Goldstücke fand! Nun wusste er, dass der Zwergkönig da gewesen war.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.