Die Welt war schon lange erschaffen und die Menschen wanderten auf ihr umher, da beschloss der Schöpfergott, ihnen die Sprache zu schenken. Er überlegte lange und dachte dann: „Es ist wohl besser, wenn die Menschen verschiedene Sprachen sprechen können“. So dachte er sich viele Sprachen aus, gab ihnen die Form von Blumensamen und füllte sie in verschiedene Beutel. Nun rief er einen Engel zu sich: „Logos, mein schöner Engel, fliege über die Erde und verteile diese Sprachsamen über den Köpfen der Menschen.“
Sogleich flog Logos mit diesem Geschenk über die Erde und verteilte die verschiedenen Sprachsamen wie angewiesen. Endlich waren alle Beutel leer und er machte sich auf den Heimweg. Da flog er über die Alpen und fand ein bergiges Stück Land, das er in seinem Eifer übersehen hatte. Nun hatten die Menschen dort keine Sprache!
Bedrückt flog er zum Schöpfergott und berichtete ihm von seinem Fehler. Dieser schimpfte mit ihm und sprach: „Da gibt es nur eine Lösung: Du musst alle Beutel genau durchsuchen und sehen, ob noch ein paar Samen darin versteckt sind. Diese nimmst du, schüttest sie zusammen und streust sie über den Köpfen dieser Menschen in den rätischen Alpen aus.“
Der Engel schaute nun in jeden Sprachbeutel und fand in jedem noch ein paar wenige Sprachsamen. Er schüttete sie alle zusammen in einen Beutel, flog damit über das Bündnerland und streute sie über den Köpfen der Menschen aus. Da aber die Sprachsamen von so vielen Beuteln vermischt waren, entstand daraus ein Sprachgemengsel, das man in Graubünden bis heute hören kann.
Fassung Djamila Jaenike, nach D. Jecklin, Volksthümliches aus Graubünden, Chur 1878