Zuhinterst im Talgrunde von Frutigen, zwischen Öschinen und dem Breithorn, erhebt sich über 11000 Fuss hoch die Frau, oder weisse Frau, deren Gipfel mit einem Mantel von ewigem Schnee bedeckt ist. In Frutigen geht die Sage, dass dieser mächtige Koloss einst eine grasreiche Weide gewesen sei. Die dortigen Weiden haben von den vortrefflichsten Kräutern in Fülle hervorgebracht, hiess es doch von denselben:
Muterne und Adelgras,
Das beste Chrut, was d’s Chueli frass.
Es kam vor, dass die Kühe dreimal des Tages gemolken werden mussten. Auch dieser Berg soll einer blinden Frau gehört haben, die mit dem Sohne, ihrem Gesinde und der schönen Herde jeden Austag aufs Neue die Alp bezog. Der Sohn jedoch lebte in Saus und Braus und unterhielt verbotenen Umgang mit einer Jungfrau. Er achtete nicht der mütterlichen Verweise, vielmehr misshandelte er die blinde Mutter. Deshalb sprach sie den Fluch aus: "Der Berg soll sich mit Eis bedecken und du und deine Herde sollt darunter begraben werden." Kaum hatte sie’s gesprochen, so löste sich vom Bergesgipfel die ungeheure Masse des Gletschers los und stürzte über die Alp dahin. Noch heute hört man das Gejohle des sündigen Sohnes und das Brüllen seiner schönsten Leitkuh. Es ist möglich, den Fluch zu heben. Wenn jemand so glücklich sein sollte, die Kuh an einem Karfreitag vor Sonnenaufgang auszumelken, soll die vorige Schönheit des Berges sich wieder einstellen und der Verbannte erlöst werden. Aber noch ist dies niemand gänzlich gelungen, weil die Sonne immer eher aufstieg, als das Melken beendet war. Jeder aber, der bis jetzt das Wagstück unternahm, ohne es gänzlich zu vollbringen, ward die Beute eines Ungeheuers.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.