In einem der Seitentäler des Berner Oberlandes lebte ein alter, frommer Mann, der von Gott mit Geld und Gut, aber auch mit vielen Kindern gesegnet war. Seine Gattin hatte acht Töchtern und einem Sohne das Leben gegeben. Dieser Sohn aber machte dem Alten statt Freude nur Kummer und Sorgen. Mit wilden Gesellen schweifte er Tag und Nacht umher und achtete weder der Ermahnungen des Vaters, noch der Tränen der Schwestern. Da sagte der Vater eines Tages zu seinen Töchtern: "Da aus eurem Bruder, den ich als meinen Erben einsetzen wollte und der, wenn ich einst tot, für euch sorgen sollte, ein Verschwender geworden ist, der meine ganze Hinterlassenschaft verprassen würde, muss ich auf eine andere Art für euch sorgen. Ich habe daher unter den Söhnen unserer Nachbaren mir Eidame erwählt. Ich will euch eine Aussteuer geben, damit ihr nicht leer aus dem Hause zieht. Haltet euch bereit. Morgen soll euer aller Hochzeitstag sein."
Als sie nun am andern Tage mit ihren Erwählten am Hochzeitsmahle sassen, sprang plötzlich die Türe auf und der Bruder, der seit Tagen nicht mehr daheim gewesen, trat ein und rief: "Was verprasset ihr da mein Erbe?" und lästerte die Anwesenden. Seinem Vater schrie er aber zu: "Du hast mich um mein Erbe betrogen, ich bin dein Sohn nicht mehr! Hast du mich verstossen, kann ich dich auch verstossen!" und stiess mit diesen Worten den Alten zurück, dass dieser ohnmächtig zu Boden stürzte. Der unnatürliche Sohn aber floh zur Türe hinaus. Um die Mitternachtsstunde, als der totgetroffene Alte auf seinem Bette lag, ertönte plötzlich durch das Alpental ein schrecklicher Donner. Eine Lawine war vom nahen Gletscherberge gefallen Da richtete sich der sterbende Greis nochmals von seinem Lager auf und sprach: "Gott hat meinen Sohn gerichtet, sei er seiner Seele gnädig!" worauf er zurücksank und erblich. Der unnatürliche Sohn aber irrt seit jener Stunde, ein zu ewiger Busse verdammter Geist, auf den Gletschern jenes Tales umher.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.