Wenn man vom Fricktaler-Dorfe Zeihen nach der Sägemühle zu geht, so hat man links einen schönen Tannenwald, rechts Weinberge; oberhalb der Talmatten bildet dann der Bach, der das Tälchen durchfliesst, einen Wasserfall, die Imberger-Wag geheissen. Das Rauschen des fallenden Wassers, die senkrechten Felswände, hohe Steinblöcke auf der andern Seite, die augenblicklichen Sturz zu drohen scheinen - dies alles macht einen überraschenden Eindruck.
Aber die Dorfbewohner sehen noch allerlei Anderes und Geheimnissvolles in diesen Dingen. Sie wissen, dass ein heiliger Waldbruder vor Alters hier sich aufgehalten hat; sie malen sich in den Felstrümmern die Trümmer eines Raubschlosses aus, das da sein Schatzgewölbe hatte, wo jetzt die Höhle ist im Weinberge zu Effingen, und endlich wissen sie, dass diese Höhle auch die Wohnung jener Erdweibchen gewesen sei, die sich hier lange Zeit hindurch eingewohnt hatten. Und in der Tat weist das Innere der Höhle halb und halb auf einen niedlichen Haushalt hin. An der einen Wand sind mancherlei muldenförmige Vertiefungen zu sehen; das ist der Backtrog und andere kleine Gelasse; an der nördlichen Seite scheint eine Felsplatte zum Tische verebnet zu sein; hinten stehen Trümmer, die einem Steinofen ähneln, vorne sprudelt sogar ein nettes Brünnlein auf. Das alles sollen die Erdweibchen mit unbedingtem Gehorsam, wie es ihnen ihre Meisterin gebot, aus dem Felsen gegraben haben, nachdem sie von den hartherzigen Menschen aufs Feld gejagt und mit dem Tode bedroht worden waren, soferne sie sich je wieder im Dorfe blicken lassen würden.
Und doch war die Furcht der Effinger eine so törichte. Denn die Weibchen taten jedem Armen Gutes, wo und wie sie nur konnten; jedem Holzhacker im Walde halfen sie seine Reisswelle zusammen klauben, den Mädchen, die Erdbeeren suchten, pflückten sie die Körbchen voll. Nach und nach wurde man wohl wieder ein wenig duldsamer gegen sie und es verschloss sich nicht jede Türe mehr vor ihnen; aber immer noch war eine Scheu vorherrschend, wenn man ihre dicken kraushaarigen Köpfe betrachtete und das tierisch gestaltete Ohr. Man wollte aber der Sache ganz auf den Grund kommen, und namentlich auch ihre Füsse einmal genauer kennen lernen, die sie in langgefalteten Röcken vorsichtig verbargen. Also streute man neben dem Rebberge Asche in den Fussweg, und bald darauf sah man dorten nichts anderes als lauter Gänsefüsse eingedrückt. Nun war's aus bei den Bauern und bei den Erdweibchen.
Diese flüchteten sich in die Imberger-Wag hinauf, und als das Volk mit Prügeln und Heugabeln heraufzog, um sie wie Hexen auszutreiben, verschwanden sie auch da. Nun sieht man sie nur noch an der heiligen Weihnacht; processionsweise kommen sie in schimmernden Kleidern von der Höhle nach jenem Wasserfall gegangen, jede mit einem kleinen Kinde auf dem Arm.
Quelle: Ernst L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 1 Aarau, 1856
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch