Eine Stunde hinter der Stadt Aarau liegt im Jura das Bergdorf Ober- und Unter-Erlinsbach. Geht man dem Laufe des Dorfbaches weiter aufwärts nach, so kommt man in ein Hochthal, das man zu den schönsten des ganzen Gebirges zählen darf. Zwilfluh, Geisfluh, Ramsfluh, Egg, Schafmatt, Rothholz, Wasserfluh, sind die Namen der nächsten Berge, die im Umkreise einer Stunde die Landschaft nach allen Seiten eingrenzen. Dreitausend Fuss hoch reichen ununterbrochen ringsum die Buchenwälder und Bergwiesen; wie hellgelbe Bandstreifen flechten sich die Kalkfelsen oben durch die Hochwaldung, und noch auf den äussersten Felszinnen fort läuft eine Reihe unerreichbarer Legföhren, die sich zierlich fein gegen den Himmel abheben. Ein eigentümliches saftgrünes Licht mildert die schweren Wald- und Bergschatten, auf den Matten gewahrt man ein paar rothe Ziegeldächer, von der Sennweide herab tönt Schellenklang, reichlich strömen und rauschen die Quellen zusammen, im Gebüsche schlagen zahlreiche Amseln, der Hühnerweih wiegt sich in der Luft, und diese sonst wilden Schluchten werden zu einem Bilde anmuthiger Einsamkeit.
Hier soll Wil gelegen haben, ein untergegangenes Bergdorf. Es ist älter gewesen, als die benachbarten Ortschaften, und es hatte schon sein eigenes Kirchlein, ehe das grosse Dorf Erlinsbach ein solches besass. Die Mauertrümmer davon standen noch vor einigen Jahrzehenten oben in der Waldschlucht bei der Ramsfluh an der Heilquelle, wo man nun das Gasthaus zum Lorenzobad erbaut hat. Man konnte die alten Grundmauern damals nicht abtragen und musste sie mit Pulver sprengen. Die Haupttragsteine und Gesimse waren schon früher weggeschafft worden, um sie in die Dorfkapelle von Ober- Erlinsbach einzumauern. Das jetzige Gasthaus bei der Quelle nimmt die Stelle des alten Grabackers ein. Da man beim Neubau den Boden umwarf, kamen so viele Gerippe auf einmal zum Vorschein, dass man sie auf den katholischen Kirchhof ins Dorf hinabfahren musste. An einem Skelette fand man einen silbernen Ring, der aufbewahrt worden ist. Befremdend aber war es, ebendaselbst auf eine ganze Schichte von Rossknochen zu treffen, die draussen um die Mauern herum wohlgeordnet lagen und zum Theil vom neben fliessenden Waldbache blos gelegt waren. Das Volk sah in ihnen Ueberreste heidnischer Gottesverehrung. Denn man weiss, dass an dieser Stelle ein Eremite wohnte und die Leute der Umgegend aus dem Wasser der Lorenzoquelle zu Christen taufte. Ehe er hieher gekommen war, hütete ein weibliches Wesen diesen Born, man kennt sie jetzt noch allgemein unter dem Namen der Frau. Der Bannwart, der oben im Bergdörflein Hard wohnt, hat sie in den letzten Jahren einmal plötzlich im Tannenwalde getroffen und konnte ihr gerade noch ausweichen. Man fürchtet sie nicht, aber man meidet sie in ehrfürchtiger Scheu; denn sie allein ist übrig geblieben, da alles zusammen, das Dorf Wil und seine Kirche bei einem Erdbeben verschüttet wurde; auch die heilige Quelle, welche früher heiss floss, ist seitdem nur lau, da sie jetzt mit andern innern Bächen zusammen geschoben aus dem Berge kommt. Aber solche Fruchtbarkeit strömt noch immer mit Quelle und Bach ins Thal, dass kaum ein Stein mehr von dem alten Gerölle des Bergsturzes unübergrast und nackt daliegt.
Damals sind auch die alten Bewohner dieser Gegend ausgewandert, die Erdmännchen. Ihr Schloss hatten sie in der dem Bade gegenüber stehenden Gebirgskuppe, hoch oben in dem gewaltigen Felskegel der Ramsfluh. Die jetzt noch sichtbare Felshöhle war damals so gross, dass drinnen ein Reiter auf seinem Rosse aufrecht sitzen konnte. Nun ist der Ort schwer zugänglich, das Thor ist durch Bergschutt verengt, und erst wenn man sich durch den Einschlupf hindurch gearbeitet hat, wird das Innere der Höhle breiter und höher. Es führt noch eine Spur von Felstreppen hinan. Zur Seite klafft eine Oeffnung, das soll das Schaufenster für den Thorwart gewesen sein. Dann geht es stark in die innere Tiefe hinab, und von da soll ein unterirdischer Gang hinauf führen bis zur Spitze der eine Stunde entfernten Wasserfluh. Aber der Weg ist so klüftig und finster, dass man sich nicht hinab wagt; nicht einmal den ungeheuren Kautz kann man fangen oder schiessen, der noch drinnen haust und bei Witterungswechsel das enge Thal Nächte lang mit seinem Geheule erfüllt. Dreifache Höhlen bildeten den Keller, den Wohnsaal und die obere Schatzkammer der Zwerge. Bei Regenwetter fliesst nun der Ramsfluhbrunnen heraus, er kommt aus einem See, der im Jnnern des Gebirges liegen soll. Die Erdmännchen, die hier wohnten, trugen Mäntel, deren Saum weit über die Füsse herabreichte und deren Kapuze den Kopf verhüllte. Wer im Dorfe buck, musste ihnen einen Wähen vor das Fenster legen. Von ihnen hat man kein anderes Ueberbleibsel mehr als die grossen Alpenraben, die sich, ausser in dieser Gegend, sonst im Jura nicht aufhalten sollen. Sie dienten den Zwergen als Boten, und auf ihnen sind sie auch miteinander aus dem Thale fortgeritten.
An jener Quelle in Wil gieng ein armes Weib einst am späten Winterabend vorbei, um ihr Bettelbrod heim zu tragen, das sie sich den Tag über droben in Hard bei den Bauern gesammelt hatte. Sie watete durch tiefen Schnee und fror jämmerlich. Da stand nun plötzlich ein Erdmännchen vor ihr und bat sie so dringlich als freundlich, auf der Stelle mit ihm hinauf in die Höhle der Ramsfluh zu kommen. Sie liess sich durch den hohen Lohn, von dem er sprach, bewegen, den bösen Weg noch einmal zurück zu machen, und traf drinnen in der Höhle ein kleines Weib, das gerade in Kindsnöthen lag. Derlei war der Erlisbacherin nicht allzuneu; sie erinnerte sich, wie zu ihren Lebzeiten in den zwei Nachbarorten Wittnau und Niederwil noch seltsameres geschehen und dorten sogar ein Geisbock laufen gekommen sei, die Hebamme in den Berg hinauf zu holen. Als nun das Bettelweib ihren Dienst verrichtet hatte und ein wunderwinziges Kindlein die Wände beschrie, warf man ihr Glasscherben, Steinchen und Kohlen händeweis in Schürze und Sack und entliess sie alsbald unter vielem Dank und mit der besondern Mahnung, zu diesen unscheinbaren Dingen ja Sorge zu tragen. Das Erdmännchen selbst gieng ihr den steilen Weg voran und begleitete sie wieder bis zur Lorenzoquelle hinab. Die Frau fror auf dem bösen Steige bitterlich, und wenn sie ihre erstarrten Finger unter das Fürtuch. verbergen wollte, verlor sie darüber bald dies bald das von dem Duzenderlei, was man ihr droben hineingesteckt hatte. So oft sie wieder etwas im Hohlwege fallen ließ, sagte das Männlein allemal:
Je minder as b'hebsch,
Je minder as hesch.
So kam sie endlich heim. Als sie da den Ueberrest von allem, was unterwegs nicht aus der zerlumpten Schürze gefallen war, beim Lichte ausbreitete, fand sie noch eine Glasscherbe, die zu Silber geworden war, und ein Köhlchen und ein Steinchen, das eine war in Gold, das andere in einen Edelstein verwandelt. Alles Suchen um das verloren Gegangene half nachher nichts mehr.
Quelle: Ernst L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 1 Aarau, 1856
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch