Eines Herbstes, etliche Tage vor dem Abzügeln, stieg der Tschingelfelder Glauses Jaggelli den Schafen nach, um diese dann bei der Hand zu haben, wenn es galt, mit der grossen Ware talaus zu ziehen. Jetzt, wo es schon merklich kühle Nächte gab, bekamen die Bänzen Lust, sich immer höher in die Gräte zu verlieren, und da war es ratsam, die Unsteten rechtzeitig zusammenzuhalten. Im Hinterbirg, einem kleinen Tälchen am Rande der Alp gegen die Grindelwaldseite hin, verschlug es Jaggellin an ein munter dahergischtendes Bächlein, dessen Lauf er schon oft gefolgt war und auch jetzt wieder folgte. Noch hatte er von den Schafen keine Scheiche erlickt, er mochte sein „Bänz, häl-häl-häl!“ den Hals voll rufen, der kühle Wind trug ihm immer nur den Widerhall aus den hohen grauen Flühen und den mit Schneepietschen behafteten Hängen zu. Ausgiebig schritt er aus, die Tage kürzten, und wenn die Bänzen an Tschingelfeld auf‘s Ausziehen versessen waren, hatte man die Zeit zwischen den Sternenscheinen zu nutzen.
Auf einmal, der Schreck warf Jaggellin fast hintenüber, ging vor ihm der Felsen auseinander, und er sah in eine grosse Höhle. Sturm und stur blieb er vor dem Mordsloch stehen. Da drinnen glänzte und gleisste es wie aus tausend Spiegeln, in die die Sonne scheint. In allen Farben ragten von den Höhlenwänden prächtige Kristalle, kleine und grosse, und ihr strahlendes Leuchten mischte sich zum feenhaften Zauberglanz. Vergessen waren die Schafe, vergessen die kürzer gewordenen Tage. Mund und Augen sperrangel offen, im schitteren Küherbart ein lebhaftes Zucken, staunte der Älpler in die nie gesehene Pracht. Als er sich endlich, endlich selber wieder spürte, fasste er sich ein Herz, die Höhle zu betreten, schlug aber vorsichtshalber mit dem Bergstecken an die vordersten Kristalle. Da dröhnte in der Höhle drinnen ein mächtiges helles Echo, als klirrten alle Fensterscheiben der Welt. Der Mann rannte davon - und konnte sich doch nicht von dem Anblicke trennen. Aus der Entfernung merkte er sich die Umgebung der Höhle, im Bächlein nicht weit davon lag ein grosser gelber Stein, ein sicherer Anhaltspunkt. Man konnte nicht wissen! Wenn ihm nur bald die donners Bänzen über den Weg laufen würden, die mussten ihm zuerst in Sicherheit, dann liess sich weiter schauen.
Bis zum Abend hatte der Älpler die Schafe gefunden. Am nächsten Tag machte er sich neuerdings nach dem Hinterbirg auf, kam an das Bächlein und zu dem gelben Stein, die Höhle fand er nicht wieder. Und so oft er auch in späteren Jahren auf die Suche ging, der Felsen tat sich nie mehr auf.
Quelle: Albert Streich, Brienzer Sagen, Interlaken 1938.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch