Der Vollenküher

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Am Fusse des Faulhorns, vom Tschingelfeldbödeli gegen das Schwabhorn, zieht sich ein langes Felsband hin, das Schweifisband genannt. An einer Stelle, ungefähr in der Hälfte, ist im Felsen eine trichterförmige Einbuchtung; sie heisst unter den Älplern die Volle, und ein etwa zweihundert Schritte höher stehender, grosser viereckiger und durch die Mitte gespaltener Stein, der Lugistein.

Einst hatten Vater und Sohn, Älpler an Bättenalp, kehrweise die Hutschaft zu besorgen. Der Vater war ein arger Spieler; als sie eines schönen Tages die ganze Viehherde der Alp auf das Schweifisband getrieben hatten und dann beim grossen Stein eine „Gliwwi“ hielten, verliess er den Buben mit der Lüge, er müsse noch das und das besorgen. Er ging aber in den obersten Stafel, auf die Fangisalp, zum Kartenspiel.

Am Nachmittag zogen hinter dem Schwabhorn plötzlich schwere, finstere Wolken herauf, und fliegende Schatten strichen über die Alp. Rasch überzog sich der blaue Himmel mit düsteren Nebeln, schienen Blitze, rollte der Donner und toste ein Hagelwetter daher, wie es der Bub noch nicht erlebt. Der hatte sich hinter einen Stein geduckt, darüber hinweg die Schlossen ins Gras sausten um wieder aufzugumpen.

Aber das Vieh! Herrgott, das satzte ja davon, in hellem Galopp auf die Volle zu!

Wohl sah der Bub die Gefahr, sprang den Tieren nach, chettete, chom, ssä-ssä, chom! Rief jedes beim Namen, sprang wieder fast die Beine aus dem Leib. Seine schwache Kraft reichte nirgends, das stürmende Wesen zu besänftigen. In wilder Flucht vor dem Wetter rannten die Tiere dahin, blindlings in die Volle, in den sicheren Tod.

In heller Verzweiflung tat der Bub den Fluch, wenn alles zum Teufel müsse, dann wolle er grad auch mit, hängte sich der letzten Kuh an den Schwanz und starb den grausen Tod seiner Schutzbefohlenen.

Als der Vater von dem grässlichen Unglück Kunde erhielt, verliess er auf der Stelle Spiel und Genossen; niemand hat ihn je wieder gesehn.

Seit jener Zeit aber hörten die Älpler und Gemsjäger in dieser Gegend zuweilen das Brüllen von Kühen und Läuten von Glocken und den Chettruf „Chom, chom, ssä, ho, hohoho, ho!“ und auf dem Schweifisband und im Tschingelfeldbödeli das Vieh treiben. Es sind die Vollenküher, Vater und Sohn, mit der einst im Volli zugrunde gegangenen Bättenalpsennerei.

Quelle: Albert Streich, Brienzer Sagen, Interlaken 1938.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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