An einem mausligen, kühlen Spätsommerabend war ein fahrender Schüler, einer jener Gesellen, die damals die Berggegenden nach Kristallen und Goldschätzen absuchten und daneben rätselhafte Künste trieben, in das Tiefental gekommen und hatte im grossen Heidenhaus um Nachtlager angeklopft. Der Bauer, ein stämmiger Mann in den besten Jahren, gab ihm Bescheid, es gehe nicht, aller Platz sei belegt, überdies erwarte diese Nacht seine Frau ein Kind, und da stehe es nicht wohl an, einen fremden Menschen zu beherbergen. Der Fahrende legte sich aber nicht so bald zum Ziel, drängte und bat, bei dem unangenehmen Wetter doch unterstehen zu dürfen, bis der Bauer endlich einwilligte, ihm eine Kammer neben der grossen Stube anzuweisen.
In der Nacht kam die Frau des Bauern in der grossen Stube nieder. Bei jedem Wehen rief da der Scholar von seinem Lager her: „Noch nicht, noch nicht, noch nicht!“ Das ging so eine ganze Weile. Einmal aber sagte er dann: „Aber jetzt!“ Und in diesem Augenblicke brachte die Frau das Kind, einen Knaben zur Welt.
Am Morgen darauf stellte der Bauer den Fremden seines eigentümlichen Verhaltens wegen zur Rede. Der wand sich zuerst hin und her und wollte mit keiner Antwort herausrücken, dann sagte er’s doch: „Hättet Ihr mich nur nicht gefragt! So müsst Ihr’s wissen: Wenn ich nicht entgegengehalten hätte, dann wäre der Bub einmal zum Selbstmörder geworden!“
Musterte der Bauer seinen Gast ungläubig von unten bis oben. „Und jetzt?“
„Jetzt wird ein Anderer ihn töten wenn er neunzehn Jahre alt ist, und zwar an dem und dem Tag!“ Aber der Bauer wollte der Sache sicher sein und verlangte einen Beweis. Meinte der Fremde, er werde ihm schon glauben müssen, „an dem und dem Tag wird sich ein Füllen im Stall am Anbindestrick erhängen“, bedankte sich für die Unterkunft und schritt davon. Als der Bauer an dem bestimmten Morgen sein Füllen wirklich im Anbindestrick erhängt fand, ward ihm das Herz schwer, denn nun wusste er, dass auch die andere Voraussage sich erfüllen werde.
Der Bub wuchs heran. Als er neunzehnjährig geworden und der von dem Fremden angegebene Tag kam, schickte ihn der Vater in ein Stubeli zuoberst im Haus, um ihn über die gefährliche Zeit hinweg ja von andern Menschen fernzuhalten. Tagsüber ging auch alles gut, der Abend rückte heran, ohne dass dem Buben ein Leides geschehen wäre. In den späten Abendstunden trieb dann die Tiefentaler Jungmannschaft um das Haus herum ein wildes Versteckspiel, das bald in böse Händel und eine Schlägerei ausartete. Da gewahrte der Bub, der dem Streite von oben herab zusah, wie sein bester Freund gegenüber einem andern Burschen in Unvorteil geriet, er mochte sich nicht meistern, sprang zu Hilfe, erhielt einen Stich mit einem Messer in den Bauch und erhob sich nimmermehr.
Quelle: Albert Streich, Brienzer Sagen, Interlaken 1938.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch