Gegen die Lenk hin weitet sich das Tal. Die Abhänge sind übersät mit trauten Hüttchen, in denen das Glück, die Freude und lustige Lieder wohnen. In der Ebene wächst hohes Gras, weiden kräftige Kühe und wenn die Heuer den Schweiss von der Stirne wischen und am Abend nach dem trauten Dörfchen heimwärts ziehen, die Sensen und Rechen auf der Schulter, bleiben sie von Zeit zu Zeit ein Weilchen still und betrachten, wie die leuchtende Glut am Wildstrubel in ein Violett übergeht, bis der weisse Riese seine kalte Pracht erhaben in die sternenhelle Nacht ragen lässt.
Einst war es hier anders. Wo jetzt die Matten spriessen, stand ein prächtiges, reiches Dorf.
Es bestand nur aus geräumigen Häusern, an welchen grosse, blanke Scheiben glänzten und die mit schönen Sprüchen überschrieben und mit anmutigen Bildern bemalt waren.
Zerlumpte Kinder sah man hier im Niederdorf keine. Dafür prächtige Kühe und Ochsen. Aber Lieder hörte man auch keine. Nur im obersten Häuschen war ein Büblein, das jodelte! Das einzige, das im Niederdorf jodeln konnte. Nach einem langen, heissen Sommertage schwankte eines Abends eine blasse, zitternde Gestalt dem Dorfe zu. Es war ein Bettler. Seine Haare waren schneeweiss, seine Wangen hohl, seine Stirn gerunzelt. Nur die Augen funkelten gar seltsam.
Beim schönsten Hause las er die Inschrift:
„Ich hab gebaut nach meinem Sinn,
Und es gefällt mir wohl darin.
Gar mancher schaut's und tadelt dran;
Er mach' es besser, wenn er kann!"
Er flehte um ein Stücklein Brot und bat um ein Nachtlager. Allein die Tür wurde vor ihm zugeschmettert und hörbar verriegelt.
Er ging weiter und klopfte wieder an. Allein auch hier verschloss sich ihm die Liebe.
Und weiter ging er und wieder weiter - keine Brust schien im Niederdorf zu fühlen und kein Herz zu schlagen.
Nur das des Bettlers blutete. - Er liess sich auf einem Stein nieder und feuchtete den trockenen Sommerboden mit heissen Tränen.
Da erblickte er das letzte Häuschen am obern Ende des Dörfchens, woraus das Jodlerbüblein jodelte. Trostlos schwankte er ihm entgegen und pochte an. Freilich ungern. Denn das Hüttlein war halb zerfallen, der Stall klein. Hier wohnten die einzigen armen Leute im Niederdorf.
Doch hier fand er Aufnahme: Die Hausfrau wartete ihm mit Ziegenmilch und Schwarzbrot auf.
Und das Büblein sass auf dem Ofen und band mit seinem Vater Besen aus den Ruten, die es tagsüber beim Ziegenhüten geschnitten hatte. Es trat dem Bettler sein Nachtlager ab, um auf dem Heu Unterschlupf zu finden.
Es dämmerte. Die Nacht brach an. - Es war ein seltsamer Abend im Niederdorf. Die harten Herzen schlugen doch. Sie schlugen, und das Blut in ihren Adern stockte dann und wann. Es war so schwül.
Und durch diese drückende Luft klangen der Jauchzer und das Gejodel des Bübleins aus dem obersten Häuslein so glücklich und so trotzig, wie sie noch nie geklungen hatten.
Und die Berge standen dunkel und kalt da, wie finstere Recken.
Doch um Mitternacht wurden sie fahl belichtet von fernem Wetterleuchten, und dumpfes Rollen wälzte sich über die Berge ins Tal. Der Boden fing an zu beben, und auf einmal tobte und toste, krachte und schmetterte es den Berg hinunter, wie es die Erde noch nie gehört hatte. Ein Hagel von Steinen und Felsen rollte die Abhänge hinunter, prallte an die Häuser des Niederdorfes, die krachend zusammenstürzten, und deren Balken und Bretter turmhoch in die Luft geschleudert wurden.
Es war ein Schreien und Wehklagen, Brüllen und Blöken, Bellen und Jammern. Dazwischen Donnergeroll und Balkengekrach.
Das ganze Niederdorf kam in jener Nacht um. Am Morgen sah man nichts mehr von den wohnlichen Häusern mit den blinkenden Scheiben, nichts mehr von den rüstigen Bauern und kräftigen Kühen, nichts mehr von saftigen Wiesen und fruchtbaren Bäumen. Alles war ein grosser, öder Trümmerhaufen. Begraben war alles, was ehedem gelebt, vernichtet, was gestern noch geprangt hatte.
Und aus dem Trümmerhaufen ragte, ganz oben, ein kleines, halb zerfallenes Hüttlein heraus. Und davor stand das Besenbinder-Jodlerbüblein. Es jodelte nicht. Es war totenblass.
Es hatte in der Nacht gesehen, wenn dann und wann ein Blitzstrahl durch die Dunkelheit gezuckt, dass das blasse Bettelmännlein seinen Stab vor dem Häuschen in den Boden gesteckt hatte. Da die ersten Steine niedergerollt sind, hat der Stab sie aufgehalten, und alle folgenden glitten nach beiden Seiten ab, so dass das Besenbinder-Häuslein verschont blieb.
In der Nacht noch war der Bettler über die Berge verschwunden.
Das Niederdorf wurde nicht mehr aufgebaut.
Die Bergesabhänge sind wieder grün geworden und sind jetzt mit stattlichen lieben
Häusern übersät, und auf den Ruinen des untergegangenen Dorfes spriessen die fruchtbaren Wiesen glücklicher Leute.
Am Abhang steht ein altes Haus, der einzige Rest aus jener Zeit. Man nennt's: beim Niederdorf.
Quelle: Georg Küffer, Lenker Sagen. Frauenfeld 1916. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch