Wenn im Frühling die Simme ihre Winterdecke gebrochen hatte und wieder mächtiger ins Tal hinunterrauschte, zog jeweilen aus dem Oberried eine grosse Herde prächtiger Kühe zu Berge, unter hellem Geläut und frohem Jauchzen der Sennen. Sie gingen nach einem Berg im Ammerten, dort zu sommern.
Obwohl der Meister wacker zu seiner Habe schaute, auf dem Berge folgte ein Unglück dem andern. Die Knechte wurden krank oder erlitten irgend ein Missgeschick, glitschten aus oder wurden vom Steinschlag getroffen, stürzten Felsen hinunter, oder beim Holzfällen traf sie ein Ast. Und mehr als einmal kam es vor, dass man einen vor kurzem noch urkräftigen Burschen in einem schnell zusammengezimmerten Sarg zu Tale schütteln musste.
Da nun die Meisterin ein sonderbares Wesen an den Tag legte und in ihrem stieren Blicke nichts Gutes zu lesen war, ging nach und nach die Rede unter dem Gesinde, sie sei eine Hexe und die Ursache all der unglücklichen Ereignisse.
Mitten im Sommer stellte einmal der Meister einen jungen, unerschrockenen Knecht ein. Als sie auf dem Berge zum ersten Male miteinander das Abendessen einnahmen, erschien plötzlich eine schneeweisse Katze auf dem Tische, die immer um den neuen Knecht herumschlich. Er befahl ihr mehrmals fortzugehen, stiess sie hinunter und warf sie vor die Türe - nichts half: immer erschien sie wieder neben ihm und strich an seinen Händen herum. Da schnitt er ihr einfach die Pfoten ab.
Nach einigen Tagen ging er ins Tal. Der Bauer sah bekümmert drein, und als er ins Zimmer trat, warf ihm die Meisterin vom Bett aus einen stechenden und doch schmerzlichen Blick zu. Er trat näher. Sie wandte sich leicht von ihm ab. Er hob leicht die Decke empor - da gewahrte er zu seinem Schrecken, dass sie keine Hände mehr hatte.
Am andern Tage verschied sie. Doch als die Glocken ihr ausgeläutet hatten, war auch der Unglücksbann über dem Berglein gebrochen.
Quelle: Georg Küffer, Lenker Sagen. Frauenfeld 1916. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch