In früheren Zeiten sind die schwarzen Walliser gar oft mit ihren Maultieren über den Rawil nach der Lenk zur Messe gekommen. Und die Lenker gingen häufig ins Wallis, um geschnitzte Holzlöffel, Melchtern und Brenten gegen ein Fass funkelnden Weines zu verkaufen, das sie auf dem Rücken dann heimwärts trugen.
Aber es blieb nicht immer so. Ein Feuer war irgendwo im Lande angefacht worden, das auch die Gemüter des hintersten Winkels hatte aufglimmen lassen. Nach heftigem Widerstande war die Lenk ketzerisch geworden, und die Walliser sind katholisch geblieben. Sie lagen zusammen im Streit. Da nun im Tale weiter unten der Bruderkrieg entflammt war, hatten auch die Lenker ihr Fähnlein dorthin tragen müssen, um ihre neue Überzeugung mit dem Blute zu besiegeln.
Doch kaum hatten dies die Walliser vernommen, machten sie sich auf und raubten den Lenkern die prächtigen, glatten Simmentalerkühe, trieben all das rasch und leicht gestohlene Vieh über den Rawil, liessen es weiden und zechten, johlten und jauchzten fröhlich Tag und Nacht.
Doch in der Lenk war Wehklagen, Jammer und Elend.
Nur eine war voll Zuversicht. Das war die junge, rüstige Tochter des Ammanns, Greda, die ihren Liebsten, Siegfried Allemann, in der Nähe wusste.
Der war der einzige, der nicht mit in den Glaubenskrieg gezogen war, weil er schon seit geraumer Zeit in den Klüften von Fluh zu Fluh kletterte, um hinter Felsen auf Gewild zu spähen.
Als er von schroffen Klippen eine Schar über den Rawil hatte kraxeln sehen und hierauf das bunte und hastige Geläute vernommen hatte, eilte er ins Tal, wo ihm Greda flammenden Auges den Vorfall erzählte. Und sie fügte bei, dass sie ihm nicht eher die Hand reichen wolle, und verbot ihm den Kuss, bis er Rache geübt und den Armen der Lenk ihr Vieh zurückerobert habe.
Siegfried sammelte eine Schar der kecksten Knaben, eilte mit ihnen über den Rawil, und bald hörten sie aus einer Schenke das Johlen und Jauchzen der Walliserburschen, aber auch das anmutige Herdengeläute der Lenkerkühe.
Einem Tier nach dem andern lösten die Knaben die Glocke ab und trieben ihr Vieh dann wieder heimwärts; nur Siegfried blieb die Nacht über einzig auf der Weide, läutete bald hier, bald dort, bald mit einer tiefen, dann wieder mit einer hellen Glocke, so dass die Walliser arglos glaubten, die schöne Beute grase ruhig auf der Matte.
Aber da die Morgendämmerung anbrach, schmetterte Siegfried die größte Treichel zum Fenster der zechenden Gesellen hinein, die indes eingeschlummert waren und nun, wie vom Blitzstrahl getroffen, auffuhren und Siegfried fliehen sahen.
Ohne sich zu besinnen, rafften sie sich auf, um die Beute wieder zu erlangen, und da Siegfried auf der Langermatt ankam, rief er den Lenker Jungfrauen zu, die hierher den mutigen Lenkerknaben entgegengekommen waren, zu fliehen. Allein die Schar stob nur auseinander, um in den umliegenden Hütten Waffen zusammenzuraffen, Gabeln, Spaten, Sensen und Äxte.
Der Kampf begann. Die Knabenschar hielt tapfer stand; allein das Häuflein schmolz doch nach und nach zusammen, umzingelt von der Übermacht der Feinde. Am mutigsten schlug Siegfried drein; aber auch ihm wollte nach heissem Kämpfen der Arm erschlaffen.
Da winkte Rettung! Die Jungfrauen hatten sich unterdes gesammelt, und nun führte sie Greda stolz und tapfer in den Streit. Mit funkelnden Augen befahl sie, mit kräftiger Hand schlug sie und - o Wunder! Am Abend rann das rote Blut der Walliser durch Gras und Blümlein; denn sie hatten es nicht über sich gebracht, vor Jungfrauen zu fliehen.
Aber unter den Gefallenen befanden sich auch Lenker, und Greda hatte Siegfried nur
noch einmal den Mund zum Kuss und die Hand zum Abschiedsgrusse bieten können.
So füllte Freud und Leid die Herzen der zurückgekehrten Lenker.
Der Platz, wo die Gefallenen begraben liegen, heisst noch heute „bei den Toten."
Aber man sagt, dass sie dort oben keine Ruhe haben.
Denn von Zeit zu Zeit stehen sie auf, und dann wandelt ein langer Geisterzug hinunter nach dem Lenkerfriedhof, wo die Toten die Gräber ihrer Lieben suchen. Und sobald der Morgen dämmert, streicht der Zug wehmütig wieder hinauf nach der Langermatt.
Seither haben die Lenker die heldenmütige Tat ihrer tapferen Töchter nie wieder vergessen können.
Und zum Andenken daran herrscht noch jetzt allsonntäglich der schöne Brauch, dass man beim Kirchenbesuch den Frauen den Vortritt lässt.
Und mit bescheidenem und edlem Stolz machen Frauen und Jungfrauen von diesem ehrwürdigen Vorrechte gebrauch.
Quelle: Georg Küffer, Lenker Sagen. Frauenfeld 1916. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch