Wo jetzt am Abend die Gletscher leuchten und ihre Spalten tief und schaurig auseinanderklaffen, wo die geklüfteten Felsen kalt und kantig in die stürmischen Nächte ragen, der Sturmwind an die steile Felswand prallt und den Jodel der Sennen zerschmettert, da lachte einst eine farbige Pracht in die selige Welt hinaus. Saftige Matten nährten das köstlichste Gras; Alpenlilien und Sonnenröschen, Sterndöldchen und Goldklee säumten den sattgrünen Mantel der fruchtbaren Weiden und lagen darin zerstreut, wie die Sternlein am Himmel in einer Maiennacht. Und das Vieh gedieh und war von einem Schlage, wie es heute beim allerreichsten Bauer nicht mehr zu finden ist.
Inmitten dieser herrlichen Matten floss die Simme, die alles nährte, und nach welcher hin sich sanfte Abhänge neigten. Von der Lenk aus führten breite Straßen auf beiden Seiten der Simme nach den Anhöhen, wo prächtige Sennhütten und geräumige Ställe standen. Die
eine links der Simme, hiess Langeckstrasse, weil der dortige Zug Langeck hiess, wovon die Lenk ihren Namen erhalten hat. Und auf der andern fuhr täglich ein junger Senne mit einem Viergespann nach dem Dörfchen, wohin er die fette Milch, den kräftigen Käse und die duftende Butter brachte.
Wenn er am Abend die Tiere gestallt, gemolken, ihnen Gleck in das Maul und Heu in die Barren getan hatte, holte er sein Alphorn hervor und blies. Dann erklang ihm Antwort von drüben her. Denn jenseits hauste eine junge schöne Sennerin und weil ihr Herz stürmischer schlug und ihre Wangen sich röteten, wenn sie die Alphornklänge hörte, blies auch sie und es klang so schön und gewaltig, als läge all ihre Liebe und all ihr Hoffen darin.
Dann brausten und schmetterten die Töne aus des Sennen Alphorn!
Und so ging es Abend für Abend, bis das Siebengestirn sich am Himmel zeigte und Wiesen und Bäume und Blumen schlummerten. An einem Sonntag nun kam ein Senne aus Maid, dem Wallis, herüber zur Hütte der Sennerin. Derweil sie lachten und tranken war sie so rosig schön und es wurde ihr so warm ums Herz - so gewann er ihr Herz. Er liebkoste sie in seinen Armen, höhnte über die Lenk, überredete sie mit ihm zu kommen und führte ihr ruhelos Herz nach drüben. Am Montag blies der Senn wieder in sein Alphorn. Er wartete. Keine Antwort. Er blies und lauschte - dumpfes Echo. Er blies und blies und wartete und lauschte. Und nun blies er all sein Lieben in sein Alphorn. Das Echo zitterte daher wie fernes, halbverschollenes Klingen.
Und nun blies er all seine Verzweiflung hinein - das Echo klang zurück wie Hohn.
Jetzt schmetterte der Senn sein Alphorn mit aller Wucht nach der Hütte der Sennerin, und seine verzweifelte Seele schrie den grässlichsten Fluch in die Nacht hinaus, den die Welt je gehört hat. Mit furchtbarem Krachen stürzten die Hütten zusammen, und mit gewaltigem Getöse senkte sich der Boden. Es ward stockfinster.
Und als am andern Morgen die Sonne wieder aufging, da schien sie nicht mehr auf die saftigen Matten, und die Alpenlilien und Sonnenröschen hoben nicht mehr ihre Köpfchen.
Dort, wo der Sennerin Hütte gestanden hatte, war jetzt ein Tal, das Iffigental, und ein wildes Wasser stürzt kopfüber in die Tiefe, der Iffigenfall. Wo früher Weiden waren, erstreckt sich nun eine grosse, weisse, tote Ebene, aus der Gletscherspalten empor starren - die Pleine Morte.
Und wo der Senne hauste, ist ein steiler Berg. Wo seine Hütte stand, ragt ein kahler Felsblock senkrecht in die Höhe. Er wurde aus dem Boden getrieben, da sich das Heim der Sennerin senkte. Es ist das Metschhorn.
Die Strassen sind verfallen; das Vieh war vernichtet. Jetzt stäuben im Frühling die Lawinen ins Tal hinunter, und im Sommer bricht sich das Jodeln der Hirten an den senkrechten Wänden. Aber Alphorn hört man keines mehr an der Lenk.
Quelle: Georg Küffer, Lenker Sagen. Frauenfeld 1916. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch