Auf einer saftig grünen Alp fristete einst ein Senn mit seiner Familie das Leben. Allein das Glück hauste nicht in seiner Hütte. Ärmliche, faserige Lumpen bedeckten die Leiblein der Kleinen. Ob er im Stall molk oder die Kühe hütete auf der Weide, über die der Himmel seine durchglühte Bläue spannte -immer schlich unsichtbar die zerquälte Gestalt des Kummers neben ihm her. Der Morgen mochte noch so golden und farbig über die Triften streichen, nie dehnte sich seine Brust weiter, und wenn er des Nachts vom stillen Lager den bangen, besorgten Seufzer seines lieben Weibes hörte, schnürte es sein Herz zu, gleich wie mit unentrinnbaren Schlingen. Denn die Alp und die Hütte gehörten einer reichen Lenkerin. Sie war fühllos wie Gletschereis. Ihr musste er unerhörten Zins bezahlen.
Da brach einmal im Simmental grosse Teuerung aus. Die Kühe starben und verdarben. Der schwarze Tod hielt sensewetzend Umzug. Tiefer und quälender nistete sich die Not in die Hütte des Sennen ein. Der Tod hatte seinem jüngsten Kindlein die Lebenskräfte aus dem zarten, schmächtigen Leibe gesogen, und vor Sonnenaufgang hat ihm der Vater mitten in nachtbetauter, blumiger Alp ein Grab geschaufelt.
Da kam eines Tages die reiche Lenkerin auf ihre Räzlialp. Mit giftigem Blick trat sie in die Hütte ein. Die Kleinen wichen scheu zurück. Sie forderte die fälligen Zinsen. Mit gramerfüllter Brust und zerrissenem Herzen bat und flehte der Senn. Allein kein Fühlen regte sich in ihr.
Und da ihr Blick die zerrissenen Lumpenkleidlein der Kinder streifte, spielte gelassenes Hohnlächeln um ihren Mund. Nun krampfte sich sein Herz zusammen. Seine Seele schrie empor. Mit grässlichem Schwur verfluchte er sie und ihre gesegnete Alp.
Der Boden erdröhnte. Dumpf donnerte der Himmel. Schwarze Riesenwolken jagten heran. - Alle erstarrten. Hagel prasselte hernieder. - Die Hagelschicht wuchs, wuchs - und begrub die Alp. Tag und Jahr sprüht die Sonne ihr Licht hernieder. Doch niemals noch vermochte es sie je zu schmelzen: denn jene Hagelschicht bildet den Räzligletscher. Und wie um jenen düstern Fluch zu bannen, hebt er zuweilen an, in glühender Reinheit ins Tal zu leuchten.
Quelle: Georg Küffer, Lenker Sagen. Frauenfeld 1916. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch