Unter den Nachbarn her- und jenseits des Brienzergrates, der schmalen Wasserscheide von Aare und Emme ist heute ein friedliches Auskommen, desgleichen unter den Leuten auf der Mittag- und Abendseite des Rothorns. Zu Grossvaters Zeiten, als weder Eisenbahnen noch Autos zuhinterst in die Täler fuhren, wechselte manches Kühlein und manches Trüpplein leichtfüssiger Schmalware über den Grat den Besitzer und gründeten sich Freundschaften, die noch in der Gegenwart gelten. - Das war einmal anders.
Manche sagen, es sei im Anfang des vierzehnten, andere, es sei zwei oder drei Jahrhunderte früher gewesen, als eine Horde rauhbautziger Unterwaldner an den Hängen des Rothorns herniederstieg und auf dem Planalpstafel Mittlesten die Brienzer Älpler überfiel.
Es war ein nebliger Tag. In den Hütten hatten die Älpler gerade den Käse aus dem Kessi genommen und säuberlich in die Vätterren gedrückt, als plötzlich die Türen aufknarrten und fremde, bäumige Kerle hereindrängten. Die schlugen, gottslästerlich lärmend und fluchend, alles Zweibeinige, was herumstand oder sass, kurzerhand nieder oder stürzten es in die Käs- kessi, in die noch heisse Schotte, kopfvorab. Wehgeschrei durchgellte den Stafel. So rasch und unerwartet kam den Älplern der Überfall, dass alle Gegenwehr zu spät kam und jeder den Kürzeren ziehen musste.
Nur zwei Sennen wurden von den Unholden verschont, Vater und Sohn, die sollten sie im Nebel den Weg über Eisee in ihre Berge zurückführen. Als sich der Alte aber weigerte, den schändlichen Dienst zu tun, stachen sie ihm mit einem glühenden Scheit die Augen aus und hängten ihn an einen Dachrafen. Dem eingeschüchterten Buben aber banden sie die Hosenstössel unten zu und füllten diese mit Steinen, dass er nicht entlaufe. Dann trieben sie das Vieh zusammen und machten sich mit der Züglete bergwärts davon.
Vorab dem Zug schritt mühsam der Bub. Die Last an den Beinen wog schwer. Dazu plagte ihn das Entsetzen über das eben Erlebte und die Angst vor dem, was ihm noch bevorstand. Ob Vieh oder Mensch blieb den schrecklichen Männern eins, er wird die Heimat wohl nie wieder sehen.
Und doch glühte da irgendwo im Innersten noch ein geringes Fünkchen einer Hoffnung auf Hilfe. Oh, wenn nur Leute aus dem Dorf heraufkämen und den bärtigen Teufeln die Beute wieder abjagten! Aber die listigen Sackermenter hatten den Kühen die Glocken abgehängt, wer wollte da wissen, wo man ihnen an den Kragen müsste, wenn alles im dichtesten Nebel stak.
Ei, sieh da! Sein liebstes Kuhli, die aschgraue Lueggi, trabte ja gerade hinter ihm her und versuchte zuweilen, als ginge ihr die Sache auch zu Herzen, den Kopf an seiner Seite zu reiben. Lueggi, du gutes Tier! Wenn er ihr chettete und sie beim Namen rief, musste man das nicht bis hinunter ins Gresgi und in der Talkrümmung, im Blattmahd hören?
Und nun sang der Bub in einem fort und so laut er mochte:
„Lueggi, Lueggi, gueti Chüe,
Etz muesst gägen Underwalden züe!"
Und damit er mit seinem Zuge möglichst lange im vertrauten Gelände, herwärts des Rothorns bleiben könne, führte er die Unterwaldner, um sie im Weg zu täuschen, die langen Kehre „in den Wengen“ bergauf bis auf den Grat und die kurzen Kehre über die „Mistgable“ auf der gleichen Seite wieder hinunter dem Stafel Mittlesten zu.
Während Räuber und Vieh in den stotzigen Hängen im Nebel irrten, war an Mittlesten ein junger Älpler, der eine böse Messerwunde in den Bauch bekommen hatte, wieder zu sich gekommen. Mit der einen Hand die Wunde verhaltend, rannte er auf Tod und Leben auf die Mühlebachfluh zum „Buechelli“ und rief von hier aus durch ein Volli nach Brienz hinunter um Hilfe.
Es war grad die rechte Zeit. Im Dorfe ging die Messe zu Ende und die Kirchgänger verliessen die Kirche. Kalt lief es den Leuten über den Rücken, als sie die schauerlichen Hilferufe vernahmen. Ein Mädchen erkannte den Rufer an der Stimme als ihren Liebsten. „Hei, ihr Burschen“, feuerte es die Jungmannschaft an, „wenn ihr den Mann stellen wollt, nehmt eure Waffen und gebt den Halunken auf den Grind, dass es beschiesst!“
Aber wohl, die Burschen machten sich gleitig zwäg! Im Handumdrehen war ein Purs in der Alpgasse beisammen, grimmig entschlossen, diesmal mit den Unterwaldnern gründlich abzurechnen. Im Eilmarsch lief der Haufe der Planalp zu.
Unterdessen war dem Hüterbuben die List gelungen, die Unterwaldner wieder in die Nähe der Hütten von Mittlesten zu bringen. Auf einmal tauchten aus dem Nebel bewaffnete Gestalten auf und stürzten sich auf die Viehräuber; ein fürchterliches Hauen und Stechen hub an, die Unterwaldner fielen einer nach dem andern blutend ins nasse Gras. In den Hängen des Tanngrindels widerhallten die Weherufe der Getroffenen und das Geschrei der Angreifer. In erbittertem Kampfe machten die Brienzer ihre Drohung wahr, mit den Feinden gründlich abzurechnen; es sollte keiner mehr lebend über Eisee in die Heimat entkommen! Und erst als in einer Mulde an der Twärrenegg dem Letzten der Garaus gemacht war, freute man sich des Sieges und des wiedergewonnenen Gutes.
Auf der Heimkehr fand man dann den jungen Älpler, der von der Mühlebachfluh um Hilfe gerufen hatte, beim „Buechelli“ tot. Er war am Brand gestorben.
Die Hütte, in der der Ätti des Buben so grausam hingemordet worden war, hiess von dieser Zeit an die „Mordstye“ und der Ort an der Twärrenegg, wo der letzte Unterwaldner sein Leben lassen musste, der „Mordboden“. An beiden Orten wollen Älpler in jüngerer Zeit Waffen ausgegraben haben, und noch heute stehen, von Blacken und Nesseln überwuchert, im Planalpstafel Mittlesten die Überreste jener Hütte.
Quelle: Albert Streich, Brienzer Sagen, Interlaken 1938.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch