Wo heute der Stägiwald den Alpweg nach der Husstatt säumt, war früher eine Wildnis von Brombeerstauden und anderem niederem Gesträuch. Inmitten der Öde aber stand hart am Wege eine mächtige Wettertanne, die im Volksmund nach dem Beschützer und Schirmer der Kinder und Waisen die Zantiggleus- oder Sankt Niklaus-Tanne hiess. Wie an einer Sonnenuhr lasen die Hirter am Aenderberg über die Seebreite von ihrem Schattenwurf die Zeit ab: Als die Brienzer und Husstatter noch katholischen Glaubens waren, hingen an ihrem Stamme Heiligenbilder.
Als in den dreissiger Jahren des 16. Jahrhunderts in der Kilchöri Brienz, wie anderwärts, unter den Landleuten heftige Auseinandersetzungen über die Frage stattfanden, was nun zu gelten habe, Berns Forderung, die Reformation einzuführen, oder der Wunsch der meisten Kilchgenossen und das Drängen des benachbarten Unterwalden, beim alten Glauben zu bleiben, begaben sich auch zwei Husstatter, Vater und Sohn, mit Namen Wyss, an eine Kilchöriversammlung nach Brienz hinunter, um ihrer Meinung Ausdruck zu geben.
Das war an einem schönen Maientag im Jahre 1527. Von Wyler am Brünig, von Hofstetten, Schwanden, Brienz, Ebligen, Oberried, ja selbst von Niederried und Ringgenberg kamen die Kilchgenossen in der Brienzer Kirche zusammen, um nun einmal endgültig sich zu entschliessen, wes Glaubens man sich fürderhin befleissen wolle. Rüstig stiegen die beiden Husstatter talwärts. In den alten Stägitannen sangen die Bergamseln, in den Feldern ob dem Dorfe blühten in breiten Strichen die Säublumen, in der Tiefe blaute friedlich der See und spiegelte die sonnenüberflutete Landschaft im jungen Frühlingsgrün.
In den Herzen der Husstatter aber sah es nicht weniger als friedlich aus. Der Alte kümmerte um den alten Glauben, der auf dem Spiele stand, und versuchte, den Sohn dafür zu unterholzen. Den Jungen aber zog es zu den Neugläubigen hin, und weder der gute Wille, noch ein Machtspruch des Vaters, vermochten seinen Sinn zu ändern. Mit Wehmut, ja mit Bitterkeit erfüllte sich das Gemüt des Alten, als er den Heiligen bei der Zantiggleus-Tanne den üblichen Gruss erwies, während der Junge nichtachtend des Weges vorauslief.
Die Kirche in Brienz hatte an diesem Tage so viel Besucher erhalten, dass das hinterste Bänkchen besetzt war. Die Sache gab viel hin und her zu reden. Und als man am Ende abstimmen liess, erhob der alte Husstatter die Hand für den alten, der junge aber für den neuen Glauben, und die Mehrheit der Versammlung beschloss, Bern zu gehorchen, das Zwinglianische Bekenntnis anzunehmen und die Messe abzuschaffen.
Dieser Ausgang stimmte den Ätti Wyss nicht besser, und erst nicht gegenüber seinem Buben. Er hatte es wohl gesehen, wie der Gläffi zu den Neuen hielt. Dem wollte er heut noch das Mösch putzen, dem!
Es rückte leise gegen Abend, als die beiden sich in der Alpgasse auf dem Heimweg trafen. Zu beiden Seiten der stückweise von Scharhag begleiteten Gasse trugen die Feldwiesen schon recht hoch geschossenes Gras, trieben einzelne frühe Kirschbäume die ersten Blüten und summte tausendfältiges Kleinwesen über Blumen und Blüten. Scheuerlein und mächtige Hollunderdolden warfen zuweilen breite Schatten in den steinigen Weg, da die Sonne weit gegen Abend stand. Die Luft war erfüllt von süssem, schwerem Maiduft.
Schweigend waren sie eine Zeitlang nebeneinander her getrappt. Am Rauhenhag, als das Dorf und die Kirche ein erstes Mal ihren Blicken entschwanden, begann der Alte seinem bedrückten Gemüte Luft zu machen, bittere Vorwürfe und Beschuldigungen warf er dem Jungen an den Kopf und tat grad so, als ob die Welt untergehen müsste. Der Junge wollte sich rechtfertigen, und weil er die Antwort nicht schuldig blieb, zankten sie sich weidlich den Berg hinan.
Dann standen sie wieder vor der Zantiggleus-Tanne. Und wie beim Abstieg, kniete der Ätti auch diesmal vor den Heiligen, sie inbrünstig um Schutz und Schirm für sich und die Seinigen und besonders den abwegigen Ältesten in dieser bewegten Zeit zu bitten. Als er sich wieder erhob und sich nach dem Buben umsah, stand dieser spreizbeinig zuäusserst im Wegkehr, in beiden Händen einen faustgrossen Stein.
„Was willst du, Bub?“
„Die Maleni taugen jetzt nichts mehr. Wir haben ja heute darüber abgestimmt, die Heiligen abzuschaffen!“
„Du Lotterbub!“
Tätsch, tätsch, flogen da die Steine hinüber an die Tanne, splitterten die Bilder der Heiligen auseinander und schwirrten bogenweis weit in die Hackete hinein.
Aber jetzt ging dem Alten die Geduld völlig aus. Sunderbotzhagel, einen Ketzer, und dazu noch einen lästerlichen, zum Sohn? Nimmermehr! ln schrecklichem Zorne verstiess er den Unwürdigen aus seinem Herzen, von Haus und Heim, und dass er sich nie mehr unter des Ättis Augen zu kommen traue, er könnte ihm seinen Frevel nicht verzeihen in Zeit und Ewigkeit
Quelle: Albert Streich, Brienzer Sagen, Interlaken 1938.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch