Als in Oberried die Pest ihre ersten Opfer forderte, packte eine Familie aus dem Dorfe das Allernotwendigste an Hausgerät und Speise zusammen und floh vor der Seuche stundenweit den Berg hinauf in die Vorsass Bitschi. In die stillen Wänge am Grat hoch über Tal und See, so dachten die Leute, würde der schwarze Tod den Weg nicht finden. Wohl stand ihnen eine lange, harte Zeit bevor, was hatte das aber zu bedeuten gegenüber der Gefahr, von einer Stunde auf die andere ein todgeweihter Mensch zu sein.
Nun, wie das so geht,
d’Lengi - macht d’Strengi,
und da bald einmal der Herbst mit seinen kühlen Bergnächten in die Nähe rückte, begannen die Frau und die Kinder zu plangen nach ihrem warmen Heim im Tal. Tag für Tag hielt der Vater auf einem Felsen Auslug nach dem Dorfe, ob die Seuche am Erlöschen sei. Aber Tag für Tag erschaute er ihr Wahrzeichen, das Totenschiff, das die Verstorbenen von Oberried nach dem Friedhof in Brienz brachte. Solange das Schiff mit seinen traurigen Lasten seeaufwärts fuhr, war an eine Heimkehr nicht zu denken.
So strichen den Leuten die Wochen dahin, zwischen Hoffen und Bangen.
Endlich kam ein Tag heran, an dem die Totenfuhren auf dem See das erste Mal ausblieben. Das konnte ein Zufall sein. Als aber das Schiff auch die nächsten Tage nicht mehr fuhr, da glaubten die Leute im Bitschi die Seuche erloschen und schöpften aufs neue Mut. Nun sollte der Vater vorerst allein in das Dorf hinunter steigen, um sicheren Bericht zu bringen; am Abend wollte er zurück sein; - er sah die Seinigen nie wieder. Im Dorfe angekommen, hatte er es sich nicht versagen können, in sein Haus zu gehen und war darin dem schwarzen Tod als letztes Opfer in die Arme gelaufen. Vergeblich wartete die Familie im Berg auf die Rückkehr ihres Beschützers - als die Frau mit den Kindern im ersten Wintergux zu Tale zog, lag der Vater längst auf dem Friedhof zu Brienz begraben.
Quelle: Albert Streich, Brienzer Sagen, Interlaken 1938.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch