In den dreissiger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts lebte und wirkte zu Brienz der Pfarrherr Sigmund von Rütte. Schmächtig von Gestalt und duldsam von Gemüt, musste es der Mann an sich selbst erfahren, was es heisst, ein böses Weib im Haus zu haben, das einem das Leben zur Hölle und das Pfarrhaus vor den Leuten zum dornichten Rührmichnichtan macht. Doch ward auch bei der Frau das Mass der Bosheit einmal voll. Da sie die schwarze Brühe des Hasses über den Pfarrherren und das Landvolk ausschütten wollte, geriet sie selber in die Traufe.
Es war zur heiligen Osterzeit, da die Rätzenen, wie der Volksmund die Frau Pfarrer kurzweg hiess, nach altem Brauch das Nachtmahlbrot im Pfarrhausofen buk. Sie war aber mit nichts weniger als mit christlicher Liebe bei der Arbeit. Pechschwarz sah es in ihrem Innern aus, und während sie den Brotteig rührte, mischte sie ein Gift darunter, das allen, die vom Nachtmahlbrote essen würden, ein sicheres Verderben bringen sollte. Oh, wer hätte es dem duftend und knusperig aus dem Ofen kommenden Brot angemerkt, dass Tod und Grauen darin steckten? Nicht der Pfarrherr, nicht die Magd, und am wenigsten das Hühnervolk im Hof. Ei, wie das Federvieh flink beinelnd herbeiga-ga-gackte und die Brosamen aufpickte, die ihm die Magd aus der Küche der Frau Pfarrer zuwarf! Aber, ach, wie bald wurde der fleissige Eifer zuschanden; die Tierchen duckten die Köpfchen in die Federn, standen von einem Bein auf das andere und fielen dann tot um! Die armen Hühnchen! Als der Pfarrherr einmal daher schlurfte, lagen sie alle ausgestreckt und tot herum, gestorben am vergifteten Nachtmahlbrot einer wahnwitzigen Frau Pfarrer.
So kam die dunkle Machenschaft des bösen Weibes an den Tag. Von Scham und Elend überwältigt, suchte der gute Pfarrherr bald darauf im nahen See den Tod. Die Frau, peinlich verhört und geständig, wurde in Interlaken hingerichtet. Als schwarzgekleidete grosse Frau trat sie seither in den Nächten um die heilige Osterzeit aus dem Pfarrhaus, schritt den Garten hinunter an den See, wo sie, stöhnend und in bitteren Selbstanklagen aufgelöst, suchend am Wasser auf und ab schritt, um dann wieder ins Pfarrhaus zurückzukehren. Auf diese Weise musste die Rätzenen ihre Freveltat noch nach dem Tode büssen.
Quelle: Albert Streich, Brienzer Sagen, Interlaken 1938.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch