Die Warenfuhren aus dem Unterland nach der Gegend von Brienz und dem Hasli kamen meist auf dem Wasserwege im Ledischiff auf die Sust in Tracht, um von dort aus mit Karren an den Bestimmungsort geführt zu werden. Der Weg der Karrer von Meiringen ging durch das Dorf Kienholz, und, nach dessen Überschüttung, in der gewohnten Richtung einfach über den Schutthaufen hinweg, unter dem das Dorf in Trümmern lag.
Etliche Wochen nach dem Bergsturz waren die Meiringer wieder einmal unterwegs nach Tracht. Da fing ihr Hund an einer Stelle zu graben an. Auf dem Rückwege von der Sust lief der Bäfzger neuerdings auf sein ausgescharrtes Loch zu, es mit einem Eifer tiefer zu scharren, als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt gäbe. Und allemale nun, wenn die Karrer nach einem Unterbruch von Tagen die Stelle passierten, wiederholte der Hund das gleiche auffällige Spiel, bis die Leute für gut fanden, davon nach Brienz hinein Bericht zu machen.
In Brienz nahm man die Sache nicht gleich auf die leichtere Achsel. Herrjesses, wer konnte wissen? Man schickte sogleich ein paar Mannen mit Haue und Schaufel aus, nachzugraben.
Die Mannen lochten sich tief in den Schutt hinein. Gegen den Abend hatten sie ein dickgemauertes Gewölbe ausgegraben, es war der Keller des ehemaligen Kienholzwirtshauses. Und in dem Keller trafen sie auf einen Greis und einen Knaben, die beide noch am Leben waren. Der alte Mann, in weissem Haar und Bart, auf einer niedern Steinbank zu einem Häuflein Elend zusammengesunken, die Augen vor dem Licht geschlossen, der halbwüchsige Knabe bleich und schüchtern neben dem Alten stehend.
Sie waren es, die der Hund der Karrer gewittert hatte.
Nach Brienz gebracht, erzählte der Greis, wie er und der Knabe vom Bergsturz überrascht worden seien, wie sie sich von dem Käse und dem Wein genährt hätten, die im Keller gelagert und vom Wasser getrunken, das zwischen den Steinen heruntergesickert war. Es dünke ihn, sieben Jahre lang wären sie vergraben gewesen, doch jetzt hätten sie nur noch für drei Wochen Speis und Trank gehabt.
Der Greis starb am dritten Tage darauf, wie man sagt, weil er das Taglicht nicht mehr ertrug. Der Knabe dagegen erholte sich bei guten Leuten zusehends wieder; zum Andenken an das seltsame Ereignis aber änderten die Dorfgenossen seinen Geschlechtsnamen Schneitter in Kienholz ab.
Quelle: Albert Streich, Brienzer Sagen, Interlaken 1938.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch